(Bogotá, 16. Juni 2018, Colombia Informa).- Bäuerinnen, Fischerinnen und Goldwäscherinnen aus dem Cauca-Tal und Mitglieder der Bewegung Lebendige Flüsse Antioquia (Ríos Vivos Antioquia) sind nach Bogotá gekommen, um sich dort –nach der Katastrophe am Hidroituango-Staudamm im April dieses Jahres– Gehör zu verschaffen. Auf einer Pressekonferenz am 14. Juni haben die Sprecher*innen von Ríos Vivos das Unternehmen für öffentliche Dienstleistungen von Medellín EPM (Empresas Públicas de Medellín) aufgefordert, mit den tatsächlichen soziopolitischen und kulturellen Folgen sowie den Umweltschäden nicht länger hinterm Berg zu halten, die das Megaprojekt Hidroituango verursacht hat. Am 15. Juni wiederholten sie die Forderung auf einer Kundgebung in Bogotá.
Heute fordern die Gemeinden, das man ihnen zuhört und verlangen von EPM, der Regierung und den Massenmedien, dass sie der Bevölkerung die wahre Geschichte erzählen, wie die Menschen unter der Tragödie leiden, die dank des Staudammbaus über sie hereingebrochen ist. Den Staudamm stilllegen und die Wahrheit erzählen sind die beiden Hauptforderung der Gemeinschaft. Die sozialen Schäden, die das Megaprojekt verursacht hat, sind nicht wieder gutzumachen. Zur Zeit sehen die Fischer*innen, Bäuer*innen und Goldwäscher*innen aus dem Cauca-Tal zu, wie altes Handwerk, wie die Fischerei, die die Goldsuche und auch die Landwirtschaft. Die drohende Gefahr, dass der Staudamm einstürzt, hat bereits zu vielen Zwangsumsiedelungen geführt.
„Man verliert alles, sein Haus, seine Papiere, seine Wurzeln, seine Arbeit, Alles! Heute morgen habe ich einem Freund gesagt ‚ich kämpfe dafür, dass mich irgendeine Gesellschaft der Welt aufnimmt oder irgendeine Person, weil ich nicht weiß wohin ich gehen soll‘, und wenn das EPM oder Hidroituango mir sagen ‚wir werden dir ein Haus geben, weil deines weggespült worden ist‘ frage ich mich: Was soll ich in diesem Haus? Was ich kann ist Goldwaschen, Fischen, in Minen arbeiten oder kleinere Jobs erledigen. Also was soll ich in dem Haus, wenn ich nicht weiß, wie ich für meinen Unterhalt sorgen kann. Was wird aus meinem Leben, aus dem Leben aller, die alles verloren haben?“
Die Gemeinden fordern die Regierung und das EPM auf, die Bewegungen, die sich von Anfang an gegen das Megaprojekt organisiert haben, nicht weiter zu stigmatisieren, zu verfolgen und zu diskriminieren. Die Bewegung Ríos Vivos besteht aus Personen, die das Gebiet bewohnen und aus grassroots-Organisationen, die den Cauca-Fluss verteidigen. Aus diesem Grund wurden sie mehrfach Opfer von Bedrohungen, Stigmatisierung und Morden an ihren Anführer*innen.
„Der Bewegung wurde untersagt in die Unterkünfte zu gehen, uns verbieten sie den Mund, wir konnten keine Versammlungen abhalten, wir können uns nicht besprechen, nur zwischen einzelnen Mitgliedern der Bewegung, aber mit großen Schwierigkeiten, weil die Polizei uns verfolgt, sie versagen uns den Zugang zu den Hilfseinrichtungen und sie haben uns stigmatisiert, weil wir uns entschlossen haben dieses blaue Armband zu tragen um zu sagen ‚Ihr seid für unsere Sicherheit verantwortlich‘ wir haben ihnen gesagt ‚gebt uns einen Unterschlupf für die Anführer*innen von Ríos Vivos, sie befinden sich in Gefahr, denn sie haben schon vier unserer Anführer*innen ermordet und ihre Familienangehörigen müssen vom kolumbianischen Staat geschützt werden‘, er hat sogar die Pflicht sie zu schützen und nicht einmal das hat er gemacht, und auch uns hat er nicht geschützt. Sie erlauben uns nicht mit den Leuten zu reden und das EPM, das Rathaus von Medellín, der Krisenstab, die Hilfseinrichtungen haben den Leuten gesagt sie sollen nicht mit uns reden, denn die, die bei Ríos Vivos mitmachen, werden sie töten (…)“
Die Beklemmung der Menschen, die am Cauca-Fluss leben, wächst jeden Tag. Einer der Bewohner, Andrés Valencia, lebt in der Gemeinde Caucasia und erklärt den Umfang der Problematik und was es emotional in den Gemeinden auslöst, wenn das Recht auf Wohnraum und das Recht auf seinem Boden zu bleiben verletzt wird:
„Wir können dort, wo wir immer gewohnt und gearbeitet haben, nicht mehr leben. Aktuell haben wir viele Schwierigkeiten, wegen der Ablagerungen im Fluss. Sie haben Unmengen an Erde in den Fluss geworfen, die sie für den Straßenbau abgetragen haben. Momentan können wir -Goldwäscher, Fischer und Sandabbauer- nicht am Fluss arbeiten und wenn der Staudamm bricht, leiden wir an den Konsequenzen. Schon jetzt wissen wir nicht, wo wir arbeiten sollen und wir wollen nicht aus unseren Häusern raus und uns das täglich Brot suchen. Die Gemeinde Caucasia mit 130.000 Einwohner*innen würde nach statistischen Berechnungen zu 80 Prozent überschwemmt werden. Das hat für Panik in den Gemeinden gesorgt, denn vorher gab es Umsiedelungen von den Ufern des Flusses zu anderen Orten. Wir wissen nicht, wann der ’schlafende Löwe‘, wie wir ihn nennen, geweckt wird. Und es wird auch nicht nur das Gebiet des unteren Cauca überschwemmt werden, (…), Caucasia würde verschwinden, Nechí, alle Gemeinden in La Mojana (Sucre), alle die im Tal des Rio Cauca sind. Also wenn man nur an die Ausmaße der Tragödie denkt, wenn der Damm bricht, kann man einen Herzinfarkt kriegen.“
Die Tradgödie wirkt sich auch auf die Kinder aus. In den Unterkünften der Gemeinde Valdivia seien die Kinder unterernährt, gibt die Gemeinschaft an, sie bekämen nicht ausreichend Nahrung. Außerdem komme es zu einem Machtmissbrauch durch das Kolumbianische Institut für das Familiäre Wohlergehen ICBF (Instituto Colombiano de Bienestar Familiar), sie sagen, dass sie den Eltern die Kinder wegnähmen, wenn die Mütter und Väter die Unterkunft verlassen würden:
„Die Situation der Kinder ist schrecklich für uns. Das kann ein Symptom dafür sein, wohin uns diese Situation führt. Die Kinder befinden sich heute in einer Situation der Gewalt, sie streiten sich permanent, weil sie Angst haben. Wenn wir uns zum Beispiel die Rechte der Mädchen anschauen, sehen wir, was wirklich beim Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit passiert. Was fällt der Regierung ein sie zur Familienplanung zu zwingen, sie aber sie nicht darauf hinzuweisen, dass ein Risiko besteht, vergewaltigt zu werden! Nicht zu sagen, dass es eine angsteinflößende Situation ist, weil es dort einen Haufen Männer gibt, auch Militärs und Männer der zivilen Verteidigung. Alles ist ein Risiko, und die Mädchen und die Frauen sind dem Schlimmsten ausgesetzt. Wohin sollen sie gehen um Anzeige zu erstatten? Wem werden sie erzählen was passiert? Die Verfolgung richtet sich gegen die Kinder und das einzige wofür das ICBF gut ist, ist, dass die Mütter sagen können, dass sie Kinder rauben möchten, um sie zu verkaufen. Das ist der Eindruck, den man vom ICBF hat.“
Während man die Energie rund um die Fußballweltmeisterschaft spürt, leben gleichzeitig tausende von Personen in der Ungewissheit, was mit dem Staudamm-Projekt Hidroituango passieren wird. Doch die Tragödie für Mensch und Umwelt beherrscht nicht die Schlagzeilen. Die Bewegung Ríos Vivos und das Anwaltskollektiv Jose Alivear Restrepo CAJAR haben beim Staatsrat (vergleichbar mit dem Bundesverwaltungsgericht, Anm.d.Ü.) eine Verfügung beantragt, in der die Schließung des Staudamms gefordert wird und dass das Megaprojekt als undurchführbar eingestuft wird. Außerdem wird eine umfassende Entschädigung für die Betroffenen verlangt.
Die Problematik in ein Lied gefasst:
Eine ausführliche Textsammlung auf Spanisch zum Thema Hidroituango findet ihr bei unsere Partneragentur Colombia Informa.
Staudamm Hidroituango: Wann wird der ’schlafende Löwe geweckt‘? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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