Mitten im Müll

von Louisa Reynolds

(Lima, 23. April 2011, noticias aliadas).- Die Mülldeponie von Guatemala-Stadt ist eine feindliche Welt, in der die Müllverwerter*innen, die so genannten „Guajeros“, wegen ein paar Stücken Zink, Karton oder Papier übereinander herfallen. Sie sammeln diese Abfälle in großen Plastiksäcken und verkaufen sie dann an Recycling-Unternehmen.

Wenn die großen gelben LKWs auf der Müllkippe ankommen, springen die Guajeros – allen voran die Jüngsten und Gesündesten unter ihnen – in die Laderäume der Laster, um die ersten zu sein, die ein paar versteckte Schätze zwischen der gammligen Ladung entdecken. Von der Not getrieben, sich irgendwie ein paar Quetzales zu verdienen, arbeiten die Müllverwerter*innen unter unwürdigen Bedingungen inmitten von Metallresten, Glasscherben und unerträglichem Gestank.

Erschütternde Funde

“Auf der Müllhalde macht man die erschütterndsten Funde. An einem Tag habe ich ein winziges Baby in einer Milchpackung gefunden”, berichtet Domingo González López. Sieben Jahre lang arbeitete er täglich für 20 Quetzales (ca. 1,75 €) auf der Deponie. “Ich habe viel unter der Sonne, dem Gestank und den Schnittwunden durch Glas und Splitter gelitten. Eines Tages, als der LKW ablud, fiel ein Stein auf meinen Kopf und hat mir die Schädeldecke zerschlagen“, erzählt er weiter.

Das Leben zwischen dem Müll ist ein verzweifelter Kampf ums Überleben. Wer nur wenig tragen kann, normalerweise Frauen und Alte, verdient zwischen zehn und 20 Quetzales (0,85 € und 1,75 €) am Tag, die Kräftigsten können verwertbaren Abfall im Wert von über 40 Quetzales (ca. 3,50 €) finden.

Die „pure Not“

Gonzáles fügt hinzu, dass es die “pure Not” gewesen sei, die ihn auf der Müllhalde hat arbeiten lassen. Da er keine Berufsausbildung hatte fand er keine Arbeit, um seine Frau und seine beiden kleinen Kinder zu ernähren. Derzeit arbeitet er als Pförtner und erhält einen Monatslohn von 2.000 Quetzales (ca. 175 €). Doch seine Frau und einer seiner beiden Söhne verdienen ihr Geld immer noch als Guajeros.

Das Gebiet, in dem die Müllverwerter*innen nach verborgenen Schätze suchen, befindet sich zwei Kilometer vom Haupteingang der Deponie entfernt. Toiletten gibt es hier keine. Riesige Geier überkreisen den Müll, der in einer tiefen Schlucht lagert, und tauchen hin und wieder in einen der verwesenden Abfallhaufen ein. Die Mehrheit der Guajeros lebt in extremer Armut. Sie haben keinen Zugang zu sauberem Wasser in ihren Unterkünften und viele baden in dem schmutzigen Rinnsal, das sich durch die Schutthalde schlängelt.

Schnittwunden und blaue Flecken

Die Soziologin Alma de León Maldonado von der Universität San Carlos USAC (Universidad de San Carlos) befragte ein Jahr lang Tausende von Müllverwerter*innen, die unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten, sich aber jeglichen Versuchen der Behörden verweigern, die Müllhalde zu schließen und stattdessen eine Fabrik zur Mülltrennung zu errichten. Denn die Guajeros fürchten, dadurch ihre einzige Verdienstmöglichkeit zu verlieren.

Mit Journalist*innen und Wissenschaftler*innen wollen sie nicht sprechen. Wenn sich jemand den Müllverwerter*innen nähert, suchen sie ihre Schnittwunden und blauen Flecken an Händen und Armen zu verbergen – die sichtbarsten Zeichen dafür, wie die gefährlichen und ungesunden Bedingungen auf der Deponie ihre Gesundheit ruiniert haben.

Keinen Chef und immer Geld

De León musste hart arbeiten, um das Vertrauen der Guajeros zu gewinnen. Als ihr der Zugang zur Welt der Müllverwerter*innen gelungen war, brachte sie zu ihrer Überraschung in Erfahrung, dass 93 Prozent der Interviewten aussagten, ihnen würde ihre Arbeit gefallen. “Wenn sie eines Tages die Müllhalde schließen, wer weiß, was dann mit uns passiert? Hier gibt uns niemand Befehle oder verlangt von uns irgendwelche Papiere. Man bekommt jeden Tag sein Geld, ohne auf den Zahltag am Monatsende warten zu müssen”, erklärt González.

Einige Unternehmen hatten feste Schuhe, Overalls und Handschuhe bereitgestellt, um die gesundheitlichen Schäden, die sich die Guajeros durch den Umgang mit giftigen Abfällen zuziehen, zu minimieren. Doch die Müllverwerter*innen weigerten sich, die Schutzkleidung zu benutzen, weil sie dadurch ungelenk und weniger beweglich wären, man jedoch behände und schnell sein muss, um auf der Suche nach wieder Verwertbarem in das Meer des Abfalls eintauchen zu können.

Geringes Selbstwertgefühl

De León schreibt diese Haltung der Guajeros ihrem geringen Selbstwertgefühl zu. “Diese Menschen meinen, so geboren worden zu sein. Unter ihnen gibt es kaum Führungspersonen”, meint sie.

Ihre Ermittlungen ergaben, dass insgesamt 1.185 Menschen auf der Deponie arbeiten, 53 Prozent davon sind Frauen. 2005 gab es Dutzende Tote auf der Halde, als ein durch die Verwesung entstandenes Gasgemisch mehrere Brände entfachte. Die genaue Zahl der Opfer konnte nie genau ermittelt werden, da es auch keine Kontrolle über den Zutritt zur Halde gab. Zu jener Zeit waren rund ein Drittel derjenigen, die auf der Müllkippe arbeiteten, Kinder. Daraufhin untersagten die lokalen Behörden Kindern den Zutritt zur Müllhalde und erließen ein Dekret, wonach nur Müllverwerter*innen, die 80 Quetzales (ca. 7,50 €) für eine Identifikationskarte gezahlt haben, die Müllhalde weiter betreten dürfen.

Abseilen auf die Halde

Obwohl der Aufenthalt von Kindern auf der Deponie verboten ist, gibt es sie doch. Sie seilen sich heimlich an den Steilhängen ab, bis in die Halde hinunter. 31 Prozent der Müllverwerter*innen sind Migrant*innen aus den indigenen Departements des Hochlandes von Quiché und Huehuetenango. Sie hatten dort der ländlichen Armut entfliehen wollen und müssen ihren Überlebenskampf nun in dieser urbanen Hölle weiter führen. Ungefähr 69 Prozent der Menschen kommen aus Armenvierteln von Nachbargemeinden der Hauptstadt, wie Villa Canales, Villa Nueva, Amatitlán und Chinautla. Nur 0,3 Prozent der Arbeitenden stammen aus anderen zentralamerikanischen Ländern, vor allem aus Honduras und Nicaragua.

Bevor die Behörden den Zugang zur Deponie beschränkten, lebten viele Guajeros in notdürftig zusammengezimmerten Hütten auf dem Gelände. Jetzt sind die meisten in Viertel umgezogen, in denen es viel Gewalt gibt. Die Mehrzahl der Müllverwerter*innen sind Analphabet*innen und haben ein oder zwei Familienmitglieder, die auch auf der Halde arbeiten. De León erklärt, dieses Leben generiere einen Kreislauf in dem die Kinder mit dem Eindruck aufwüchsen, das Leben bestehe darin, in Abfällen zu wühlen.

Aus dem Kreislauf ausbrechen

Aus diesem Grund, rief Hanley Denning 1999 die Organisation Safe Passage ins Leben. Die Lehrerin aus dem US-Bundesstaat North Carolina war damals nach Guatemala gekommen um Spanisch zu lernen. Ihr Leben änderte sich jedoch, als sie die Armenviertel Guatemalas kennenlernte. Mit Safe Pasage will sie den Kindern der Müllverwerter*innen eine Ausbildung und damit bessere Chancen im Leben anbieten.

Was als kleines Freiwilligen-Projekt begann, fand im Laufe der Zeit eine immer größere Unterstützung durch Sponsoren. Nachdem Denning 2008 bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kam, führen ihre Nachfolger*innen diese Arbeit fort. Zur Zeit bietet Safe Passage für über 500 Kinder eine Vorschul- und Grundschulbildung an sowie Alphabetisierungskurse für deren Eltern.

 

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