(Berlin, 31. März 2023, npla).- Daten durchqueren täglich die Weltmeere, auf tausende Kilometer langen Kabeln auf dem Meeresgrund – dem Nervensystem der globalisierten Welt. Das Faszinierende daran: die modernen Glasfaserstränge zeichnen ziemlich genau die einstigen kolonialen Routen von Handels- und Sklavenschiffen nach.
Herausgefunden hat das Nicole Starosielski von der New York University. Und laut der Forscherin ist dieser maritime Kabelsalat trotz tausender Satelliten für die Kommunikation im 21. Jahrhundert noch immer unentbehrlich, denn „über 99 Prozent des transozeanischen Datenverkehrs, ob E-Mails, Textnachrichten oder YouTube-Videos, laufen über Unterseekabel.“ Das Problem sei jedoch, dass diese Kabel nicht Teil der öffentlichen Vorstellung vom heutigen Internet sind. „Kabel, ob Glasfasersysteme oder Telegrafenleitungen aus dem 19. Jahrhundert, sind Infrastrukturen globalisierter Netzwerke aus dem Finanz-, Militär-, Kolonial- und Wissenschaftsbereich. Die meisten der früheren Telegrafenrouten verfestigten die Spuren der Kolonialreiche, und da unsere heutigen Kabel über sie gelegt werden, folgt der Internetverkehr den Geografien des Imperalismus“, sagt Starosielski.
Internetverkehr folgt „den Geografien des Imperalismus“
Die militärischen Ursprünge des Internets sind hinreichend bekannt. Die Armee und später staatliche Universitäten waren in den 1980er Jahren auch die einzigen Großkunden, die digital über Unterseekabel kommunizierten. Die anschließende Öffnung des Netzwerks für zivile Nutzende hätte der Startschuss für den Aufbau eines globalen Gemeinguts seien können. So sieht es zumindest der Wissenschaftsjournalist Ben Tarnoff. Stattdessen habe unter Federführung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton ein kompletter Ausverkauf stattgefunden. „Wurde das Internet von den USA ursprünglich genutzt, um aller Welt ihre Stärke zu demonstrieren, setzt Anfang der 1990er Jahre eine Privatisierung ein,“ blickt Tarnoff zurück.
Zu diesem Zeitpunkt stand die zivile Nutzung des Internets noch unter der Leitung der National Science Foundation, deren Aufgabe es ist eigentlich ist, die Grundlagenforschung in den Vereinigten Staaten zu unterstützen. „Die National Science Foundation beschließt jedoch, das Internet früher als geplant in private Hände zu geben, weil die Nachfrage nach Online-Diensten groß ist und sie nicht über die nötigen Kapazitäten verfügt,“ sagt Tarnoff und fügt hinzu: „Entscheidend ist, dass dieser Übergang ohne Bedingungen erfolgt und dass die US-Regierung keine öffentliche Kontrolle behält. Der private Sektor übernimmt vollständig und errichtet im Laufe der 90er und frühen 2000er Jahre eine Unternehmensdiktatur über die physische Infrastruktur des Internets.“
Private Unternehmensdiktatur über die Infrastruktur des Internets
Erneut sind es Unternehmen, die aus dem kolonialen Erbe des Telegrafen- und Telefonzeitalters hervorgingen, die heute vielerorts den Markt dominieren. In den USA bieten Comcast, Charter, Verizon und AT&T zusammen sieben von zehn Internetanschlüssen an. Ein düsteres Szenario, doch es finden sich auch andere Szenarien. In Brasilien gibt es laut Auskunft der Regulierungsbehörde ANATEL mehr als 10.000 regionale Internetanbieter.
Die brasilianische Kommunikationsexpertin Bruna Zanolli vom globalen Netzwerk LocNet verfolgt diese Entwicklung schon seit Jahren. Es sei wichtig zu verstehen, dass diese kleinen Anbieter nicht erst während der Corona-Pandemie auftauchten. „Sie waren schon vorher da. Die kleinen Anbieter entstanden wegen des eklatanten Versagens der Big Player am Markt. 2017 erkannte dann auch die Regulierungsbehörde ANATEL ihre Existenz an und holte sie aus der Illegalität“, sagt Zanolli. Das sei ein wichtiger Schritt gewesen. Die einzige Bedingung bis heute: der Anteil eines einzelnen Anbieters am nationalen Markt darf nicht größer als fünf Prozent sein. „Der Genehmigungsprozess ist einfach und wenn Sie weniger als 5.000 Kunden haben, benötigen Sie gar keine Genehmigung“, erklärt Zanolli weiter. „Damit wurden Anreize geschaffen, bestehende Marktdefizite zu überwinden.“
Die kleinen Anbieter organisieren sich heute in regionalen Interessenverbänden und sind marktführend im Geschäft mit schnellen Glasfaseranschlüssen für Zuhause. Doch mit einem globalen Gemeingut hat dieser Ansatz nicht viel gemein. Auch die kleinen Anbieter wollen Gewinn erwirtschaften. Isolierte Gemeinden mit wenig Kaufkraft sind für sie deshalb wenig interessant. Solchen Communities bleibt da nur, selbst aktiv zu werden und mit der Unterstützung von Tech-Aktivist*innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen eigene, kollektive Zugänge zu schaffen.
60 Community-Netzwerke in Brasilien
Mehr als 60 solcher sogenannten Redes Comunitarias, also Community-Netzwerke gibt es in Brasilien inzwischen. Sie operieren meist in einer rechtlichen Grauzone und unter prekären Bedingungen, sagt Zanolli: „Um so ein Community-Netzwerk aufzubauen, musst du den Internetzugang zu einem Preis anbieten, den sich die Leute auch leisten können, denn sonst bleiben viele wieder offline. Was machen die meisten Community-Netzwerke also? Sie zahlen einfach für einen recht langsamen Internetheimanschluss und teilen diesen dann zwischen 20 bis 30 Familien auf.“ Das ist für die Nutzer*innen dann keine Megaerfahrung. „Aber es reicht, um ein paar Whatsapp-Nachrichten zu schicken.“
Aus diesem kollektiven Ansatz eine attraktive Nutzer*innenerfahrung zu machen, das ist das Ziel der NGO Instituto Bem Estar. Mit Unterstützung von LocNet und der Internet Society ist es der Organisation gelungen, erstmals auch Glasfaserzugänge kostengünstig abseits der Marktlogik anzubieten. Die Idee dahinter: kleine Anbieter werden in die soziale Verantwortung genommen, um Community-Netzwerke aufzubauen. Marcelo Saldanha vom Instituto Bem Estar erklärt, wie dieser sogenannte „Plan B“ genau funktioniert: „Plan B tritt dann in Kraft, wenn ein kleiner kommerzieller Anbieter bereits eine Gemeinde versorgt, in der sich nicht alle einen Internetanschluss für ihr Zuhause leisten können. Einige der Anbieter sind für diese soziale Schieflage empfänglich und lassen zu, dass ein Glasfaseranschluss in weitere Internetzugänge aufgesplittet wird, wenn die Community bereit ist, den Zugang selbst zu verwalten.“ Das sei für alle ein spannender Deal. Denn der Anbieter habe so einen zahlenden Kunden, aber keine zusätzlichen Kosten. Und die Community profitiert von einem schnellen Internetzugang, um damit ein eigenes lokales Netzwerk aufzubauen.
Bezahlbarer Zugang zu schnellem Internet
Das Pilotprojekt in Campos, einer Stadt im Bundesstaat Rio de Janeiro, startete vor einem halben Jahr und versorgt inzwischen 20 Haushalte. Saldanha sagt, es könnte noch schneller gehen, wenn solche kollektiven Trägerschaften einfacher an Kredite oder staatliche Fördertöpfe kommen könnten, die bisher nur privaten oder öffentlichen Akteur*innen vorbehalten sind. Zanolli von LocNet sieht es ähnlich. Es gäbe aber noch weitere Stellschrauben, die bewegt werden müssen, um die Infrastruktur des Internets zu demokratisieren: „Damit die Community-Netzwerke wirklich wachsen können, muss die Regulierungsbehörde zunächst mal einen Rahmen schaffen, damit sie auch überleben können“, sagt sie. Es brauche bezahlbaren Zugang zu schnellem Internet, um diese Bandbreite auch an die Communities weitergeben zu können. Außerdem gehe die nachhaltige Aneignung der Technik auch mit dem Aufbau digitaler Kompetenzen einher, „damit das Internet für die Leute kein Instrument der Entfremdung wird, sondern sie dabei stärkt, das lokale Zusammenleben selbst zu organisieren,“ meint Zanolli.
Die Chancen für mehr kollektive Internetzugänge stehen in Brasilien derzeit ganz gut. Das Ende der extrem rechten Regierung im Dezember 2022 hat frischen Wind in die Regulierungsbehörde gebracht. Ein neues Gesetz könnte Community-Netzwerke noch dieses Jahr offiziell als Anbieter anerkennen, sie von der Zahlung von Steuern befreien und spezielle Fördermittel bereitstellen. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Aber es wäre ein interessanter Anfang – für ein postkoloniales Internet.
Den Audiobeitrag könnt ihr auf Deutsch hier und auf Spanisch hier hören.
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