Die Wege des Mülls

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Angesammelter Müll auf dem Bürgersteig wartet auf die Abholung durch den Lkw vom Stadtdienst. Foto: Augusto Paim

(Porto Alegre, 12.07.2023, npla).-Was passiert mit dem Müll, nachdem er nicht mehr bei uns zu Hause ist? In Brasilien geht es beim Thema Müll um weit mehr als um den Umweltschutz. Vor der Haustür beginnt ein Prozess, der für viele Menschen die Lebensgrundlage bedeutet. Wir schauen uns das genauer an. Aus dem 11. Stockwerk blicke ich hinunter zum Bürgersteig. Vor kurzem habe ich dorthin den Müll gebracht. Nun will ich sehen, was mit ihm passiert.

Was wird aus meinem Müll?

Mein Müll und der meiner Nachbarschaft formen zusammen einen Haufen von Abfällen, die in Supermarkttüten eingepackt an der Laterne stehen. In einigen Stadtvierteln gibt es dafür Container, hier aber nicht. Es ist ein kalter Montagabend im Juni, Winter im Südbrasilien. In Porto Alegre, einer regionalen Hauptstadt mit mehr als 1,3 Millionen Einwohner*innen, wird der Müll wie überall im Land in nur zwei Kategorien getrennt: Der sogenannte „trockene Müll“ besteht aus wiederverwendbaren Gegenständen und wird zweimal in der Woche abgeholt. Heute wird der sogenannte „organische Müll“ geholt, der eigentlich Restmüll heißen sollte: Dorthin kommt alles, was nicht zum Recycling gehört. Ein Mann, der einen vollgepackten Karren zieht, hält vor dem Haus an. Er untersucht unseren kleinen Müllberg und schaut, ob dort etwas Brauchbares zu finden ist, denn viele Nachbar*innen trennen den Müll nicht richtig. Der Mann gehört zu der Kategorie der Catadores, also Menschen, die ihren Lebensunterhalt durch die Müllverwertung bestreiten. Catadores klettern in die Containers hinein, um besser darin wühlen zu können und vielleicht etwas zu finden, das sie an die Recyclingindustrie verkaufen können, oder eventuell etwas Organisches, das man noch essen kann. Der Mann zieht seinen Karren weiter, und im selben Moment kommt der LKW, der den Restmüll abholt. Der Müll-LKW gehört einer privaten Firma, die von der Stadtverwaltung mit der Abfallentsorgung beauftragt ist. Die orange gekleideten Mitarbeiter nehmen die Säckchen und werfen sie in den hinteren Teil des Wagens, wo der Müll maschinell kleingepresst wird. Dann hängen sie sich an die Ladebordwand und fahren weiter. Von oben sehe ich, dass etwas von dem Müll auf dem Bürgersteig liegt, entweder ist er vom Wagen gefallen, oder die Säcke wurden nicht richtig verschlossen. Am nächsten Morgen kommt eine Mitarbeiterin von der Hausverwaltung und kehrt den Bürgersteig. Plötzlich ist alles sauber. Meine Nachbar*innen und ich bekommen nicht mehr mit davon, wie es weitergeht. Aber ich will sehen, was mit meinem Müll passiert ist, und beginne mit der Recherche.

Über 22 Prozent des Restmülls könnten recycelt werden

Ich befinde mich an der Umladestation. Am Ende seiner Schicht ist der LKW mit meinem Müll hierhergefahren. LKWs fahren die ganze Zeit durch das Tor der Station, Tag und Nacht, außer sonntags. Hier werden sie gewogen und katalogisiert, um relevante Daten über die Abfallsammlung zu gewinnen. Daraufhin werden sie im Gelände entladen. Schwere Schlepper schieben dann den Müll von allen LKWs zu einem großen Berg zusammen. Unter den Augen von Geiern, die über dem Gelände kreisen, wird der Abfall auf riesige LKWs geladen, gepresst und mit einer Plane gedeckt bis zur 100 km entfernten Mülldeponie gebracht. Der Ingenieur der Stadtverwaltung, der mich beim Besuch begleitet, klärt mich darüber auf, dass die heutigen Müllberge besonders groß sind. Das liege an dem Wirbelsturm vor einigen Tagen. Doch auch an normalen Tagen werden täglich 1,5 Tonnen Müll in die Deponie gebracht. Dort wird der ganze Abfall einfach begraben, obwohl nach Schätzung des Amts über 22 Prozent dieses Mülls zum Recycling gehören. Dazu Arceu Bandeira Rodrigues, verantwortlicher Beamter für die Mülldeponie: „Wir gehen davon aus, dass in diesen Abfällen, die in die Mülldeponie landen, immer noch ein Anteil an organischen Abfällen enthalten ist, die durch Prozesse wie anaerobe Vergärung noch irgendeine Form von Energie erzeugen könnten. Man könnte auch sicher etwas davon kompostieren, statt es im Boden zu vergraben.“ Auf dem Gelände der Umladestation gibt es eine kleine Kompostierungsstelle und eine Recyclingabteilung, eine der 16, die in Kooperation mit der Stadtverwaltung arbeiten. Das eigentliche Recyclingsystem der Stadt bilden jedoch die Catadores, die täglich die Straßen ablaufen. Sie sammeln so viel vom ‚trockenen Müll‘, dass die LKWs der Stadtverwaltung nicht selten einfach leerfahren. Der Movimento Nacional dos Catadores de Materiais Recicláveis, ein nationaler Verband, der sich für die Catadores einsetzt, spricht von 2.500 Catadores, die sich den Genossenschaften und Verbänden angeschlossen haben, allerdings geht die Organisation davon aus, dass im Bundesland der Stadt Porto Alegre weitere 4.500 Catadores informell tätig sind.

Vila dos Papeleiros – der Papiersammler-Slum

Während der Müll auf dem Bürgersteig zusammengekehrt wird, fällt mein Blick auf die kleine, 600 Meter von meiner Wohnung entfernte Favela. Die Gegend, in der sie liegt und ich lebe, ist besonders bekannt dafür, ein Standort für Catadores zu sein, trotz ihrer gut vernetzten Lage am Eingang der Stadt. Hier gibt es mehrere Recyclinghallen. Viele Bewohner*innen der Favela arbeiten also als Catadores, der ganze Ort wird daher auch Vila dos Papeleiros (Papiersammler-Slum) genannt. Viele Menschen um die Favela herum leben in ärmlichen Verhältnissen, Drogensüchtige versuchen, an Crack zu kommen, Prostituierte in prekärster Lage gehen ihrem Job nach; Obdachlose leben in improvisierten Unterkünften ohne jene Hygiene. Innerhalb der Vila dos Papeleiros hingegen sind trotz des Drogenhandels und der Bandenrivalitäten die Straßen sauber, denn man versucht, dem Gentrifizierungsprozess, der seit Jahren in der Gegend läuft, etwas entgegenzusetzen. Seit Jahren ziehen immer wieder neue Brauereien und Start-Ups in den Bezirk. Dass es hier schmutzig ist und die Menschen marginalisiert, kommt ihnen gerade recht. Dazu Lisandra Batista Félix, pädagogische Koordinatorin eines Sozialzentrums der Maristen, das seit 16 Jahren in der Favela tätig ist: „Die Leute hier sollten vertrieben werden, alle sollten woanders hinziehen. Aber zusammen haben sie es geschafft, sich zur Wehr zu setzen, und wir konnten sie dabei unterstützen. Die Leute haben selber angefangen, hier alles sauber zu halten. Denn das hier ist der Eingang zur Stadt.“ Das Sozialzentrum bietet seit Beginn der Pandemie täglich ca. 120 freie Mittagessen. Zuvor hat es aber schon dafür gesorgt, dass die Gemeinschaft einen Spielplatz und eine Sporthalle bekommt. Seit kurzem gibt es hier auch Trinkwasser von guter Qualität, und bald wird allen Einwohner*innen eine kostenlose Internetverbindung zur Verfügung gestellt. Auch eine Vorschule der Maristen wurde in der Vila dos Papeleiros errichtet. So haben ca. 100 Kinder und 180 Jugendlichen der Favela Zugang zu Kursen und Kulturangeboten. Dort üben sie Capoeira oder Judo, lernen Informatik, es gibt Theater-, Tanz- und Musikprojekte. Neben dem Sozialzentrum wurde ein großer Container aufgestellt. Das ist der Standort des Projekts Semente do Plástico, die „Saat des Plastiks“, das dank Fördergeld aus einer niederländischen Institution und Unterstützung von lokalen Akteuren gegründet wurde. Jugendliche aus der Favela lernen hier, Flaschendeckel aus Plastik zu Schlüsselanhängern, Kruzifixen, Flaschenöffnern und Miniaturen umzuarbeiten und bekommen dadurch Abstand aus den Problemen der Vila dos Papeleiros.

ARCO – die alternative Müllverwertung

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Kaffeekapseln werden in der Firma ARCO auch recycelt. Foto: Augusto Paim

Zwei Kilometer entfernt, noch immer im Hype-Bezirk der Stadt, befindet sich der Standort der Firma ARCO. Das Geschäftsmodell des von zwei Umweltingenieurinnen gegründeten Unternehmens verbindet Umweltschutz mit wirtschaftlichem Gewinn. Seit 2018 bedient ARCO Restaurants, Hotels und andere Betriebe, die Abfälle in großen Mengen erzeugen, mit einer Art monatlichem Abonnement: Die Firma berät die Betriebe über den richtigen Umgang mit dem Müll, holt die sortierten Abfälle ab und sorgt dafür, dass alles richtig entsorgt wird. Natália Pietzsch, eine der Betriebsinhaberinnen, erklärt, wie der Abfall sonst nicht nur umweltschädlich erzeugt wird, sondern auch verschwenderisch: „Brasilien ist weltweit der viertgrößte Importeur von chemischen Düngemitteln, und allein in Porto Alegre fallen täglich 1.200 Tonnen Müll an. Die Hälfte davon sind organische Abfälle, die zu Dünger verwandelt werden und so in den Kreislauf zurückkehren könnten; unsere Abhängigkeit von Düngemitteln wäre somit spürbar verringert.“ Anders als der öffentliche Dienst der Stadt trennt ARCO Müll in mehr als zwei Kategorien. Einige davon erzielen keinen Profit, etwa das Recycling von Altglas, einem Material, das in Porto Alegre üblicherweise einfach auf der Müllkippe landet. Auch die Catadores interessieren sich nicht dafür, weil der Preis auf dem Markt sehr niedrig ist. Trotzdem wird bei ARCO das Glas recycelt – in Kooperation mit einer französischen Firma, die nun einen Standort im Bundesland hat. ARCO wächst konstant und hat inzwischen schon 20 Angestellte. Die Kundschaft besteht aus mehr als 100 Betrieben. Die Wiederverwendungsrate von 77 bis 80 Prozent kann sich durchaus mit einigen europäischen Ländern messen. Zum Vergleich: Nur fünf Prozent der in Porto Alegre gesammelten Abfälle gelangen zu einer Sortierungsgenossenschaft, wo sie dann recycelt werden können. 95 Prozent landen direkt bei der Umladestation und von dort aus in die Mülldeponie.

Der Geschmack des Sieges

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Bibliothek, Werkstatt und Wickelraum im Recyclinghof der Geschwister Guedes. Foto: Augusto Paim

Vier Kilometer entfernt von der Umladestation liegt eine Favela mit dem Namen Vila dos Herdeiros, der „Erben-Slum“. Dort leben zwei Schwestern, die nicht nur ihre wirtschaftliche, sondern auch ihre persönliche Existenz auf der Abfallverwertung aufgebaut haben. Stefani und Paula Guedes stammen aus einer Familie, die in der Favela mit illegalen Drogen handelt. Auch sie waren drogensüchtig, wie sie heute ganz offen erzählen. Als ihre Kinder zur Welt kamen, beschlossen sie, aus diesem Geschäft auszusteigen. Sie trennten sich von der Familie und eröffneten in der Favela einen Friseursalon, der sich schnell zum finanziellen Erfolg entwickelte, und nicht nur das. Inzwischen ist der Friseursalon auch zu einem Treffpunkt für Frauen geworden, die häusliche Gewalt erlebt haben. Die Schwestern dienten ihnen als Vorbilder: starken Frauen, bei denen sie Schutz suchen konnten. Da sich die Arbeit im Friseursalon schwer mit der Unterstützung für die Community von Frauen und ihre Kinder verbinden ließ, wechselten die Schwestern ins Recycling-Geschäft. Paula erzählt: „Recycling hat eine immense Bedeutung für das Leben. Wenn man die Tür zu einer Recycling-Halle öffnet, sind dort die Menschen, die als Abfall der Gesellschaft betrachtet werden und in dieser Struktur einen Unterschlupf finden. Und diese Menschen verwandelten sich dort in neue Wesen.“ Das Recycling-Zentrum der Schwestern heißt SDV, Sabor da vitória („Geschmack des Sieges“), ein Name, der an die harten Zeiten erinnert, die hinter ihnen liegen. Hier arbeiten auch andere Frauen aus der Community. Die Kinderbetreuung wird kollektiv organisiert, einige erledigen die Recycling-Arbeit, die anderen versorgen die Kinder mit Essen, bringen sie zur Schule und holen sie ab. Inmitten der Abfallberge wurde eine kleine Bibliothek errichtet, der Buchbestand sind Fundstücke aus dem Müll. Es gibt auch eine kleine Werkstatt mit alten, noch brauchbaren Werkzeugen. Und ein großes Puppenhaus, das zu einem Wickelraum und einer Art Kinderkrippe umgewandelt wurde. Außerdem entwickeln die Schwestern Projekte in der Gemeinschaft. Ihre Arbeit erregt Aufmerksamkeit. Über sie haben schon große Medienbetriebe berichtet, sie werden regelmäßig eingeladen, um Vorträge zu halten. Paula Guedes merkt an: „Wenn eine Favela eine Recycling-Halle hat, ist das ein Zeichen dafür, dass es dort Gerechtigkeit gibt. Denn es gibt viele Menschen, die sich, anstatt in den Drogenhandel oder die Prostitution verwickelt zu sein oder sonstigen Ärger in die Stadt zu bringen, in diesem Raum einbringen, arbeiten und ihren Lebensunterhalt verdienen.“

Der Staat muss tätig werden

Ich verabschiede mich von Stefani und Paula Guedes. Mit dem Besuch auf ihren Recyclinghof kommt meine Recherche zu Ende. Inzwischen habe ich viel darüber gelernt, wie meine eigene Heimatstadt mit unserem Müll umgeht. Etwa, dass die Stadtverwaltung sieben spezielle Sortierungs-Standorte zur Verfügung stellt, zu denen man mit Auto fahren kann, um den Recycling-Müll in mehr Kategorien zu trennen als im gewöhnlichen Abholssystem. Dort werden im Durchschnitt 1,5 Tonnen Müll monatlich gesammelt. Ein Dienst, über den leider nicht viele Leute wissen. Ich habe gelernt, dass Catadores informelle Arbeiter*innen sind, die Recycling-Dienste leisten und im Idealfall dafür entlohnt werden sollten. Sie tun ihren Job aber nicht einfach zum Schutz der Umwelt, sondern aus Existenzgründen. Deswegen haben sie kein Interesse daran, bestimmte Materialien zu sammeln, die sich wegen ihres Gewichts und des niedrigen Marktpreises einfach nicht lohnten. Was die Catadores leisten, ist nicht vergleichbar mit einer städtischen Müllentsorgung. Von den Behörden habe ich erfahren, dass bis 2040 der Abfall, der auf der Mülldeponie vergraben wird, um 66,7 Prozent reduziert werden soll. Wie soll das gehen? Es müssen sich einige Dinge ändern, auf die nur der Staat selbst Einfluss hat. Die Müllentsorgung müsste besser kontrolliert und Fehlsortierungen bestraft werden; die Industrie muss stärker darauf hingewiesen werden, dass die Rückführungslogistik beachtet werden soll, das heißt, die Industrie trägt die Verantwortung für ihre Produktionsabfälle. Auch Verpackungen sollten mit mehr Vernunft herstellt werden, um die Müllmenge zu reduzieren. Außerdem sollte sich die Kundschaft über ihre Konsumgewohnheiten Gedanken machen, denn der Überproduktion geht der Überverbrauch voraus. Auch hier sollte der Staat durch Aufklärungsarbeit einen Beitrag leisten.

Ein Aspekt, der bei allen Interviews thematisiert wurde, ist folgender: Es herrscht eine Kultur des Desinteresses, was den Müll angeht. Wenn mehr Menschen aus dem Fenster schauten, um zu sehen, was mit ihrem Müll passiert, wäre das schon ein kleiner Fortschritt.

Zu diesem Thema gibt es auch einen spannenden onda-Beitrag.

CC BY-SA 4.0 Die Wege des Mülls von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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