(Caracas, 2. Februar 2022, desinformémonos/democraciaabierta).- Nach dem Mord an ihrem Sohn nahm Ivonne Parra 15 Tage lang Schmerzmittel. Während sich ihre Freundinnen um die Formalitäten und die Beerdigung kümmerten, beweinte sie zuhause den Verlust ihres einzigen Sohnes.
Fast einen Monat nach seiner Hinrichtung beschloss Ivonne, aus dem Bett aufzustehen und etwas zu unternehmen. Sie wollte den Ruf ihres Sohnes wieder herstellen, der von der Polizei als Krimineller bezeichnet worden war. Der 20-Jährige Guillermo José Rueda Parra wurde von einer Einheit der venezolanischen Sondereinsatztruppe FAES (Fuerzas de Acciones Especiales) getötet, die der Bolivarianischen Nationalpolizei untersteht.
Am 12. Dezember 2017 um sechs Uhr morgens hatte Ivonne ihre Tür für die fünf Polizisten geöffnet. Sie hatte keinen Kriminellen großgezogen, deshalb hatte sie auch nicht erwartet, dass ihr Sohn im ersten Stock ihres Hauses im Stadtteil Blandín am Rand der venezolanischen Hauptstadt Caracas erschossen werden würde, unbewaffnet und noch im Pyjama. Anschließend simulierten die Beamten einen Schusswechsel und legten eine Schusswaffe in die Hand des toten Guillermo.
„Gib mir eine Kugel anderen Kalibers.“ – „Nein, die haben wir nicht“, hätten die Beamten gesagt, erinnert sich Ivonne, die alles von der Straße aus beobachtete.
1200 außergerichtliche Hinrichtungen in neun Monaten
Außergerichtliche Hinrichtungen sind laut internationalem Recht Morde, die von staatlichen Sicherheitskräften verübt werden oder von diesen unterstützt oder toleriert werden. Zwischen Januar und September 2021 haben venezolanische Polizisten oder Soldaten 1197 solcher Verbrechen in ganz Venezuela verübt. Diese Zahl hat das Projekt Lupa por la Vida von der Menschenrechtsorganisation Provea und dem Recherchezentrum Gumilla zusammengetragen.
Vier Jahre nach der außergerichtlichen Hinrichtung von Guillermo José sind die beteiligten Beamten noch immer nicht verhaftet, obwohl ihre Namen in dem Untersuchungsbericht genannt werden. Gegen den Polizisten Winder Rafael Flores liegt mutmaßlich sogar ein internationaler Haftbefehl von Interpol vor, dennoch wurde er nicht festgenommen.
Auf der Suche nach Gerechtigkeit
Auf der Suche nach Gerechtigkeit für ihren Sohn hat Ivonne eine weitere Mutter kennengelernt, Carmen Arroyo. Ihr Sohn wurde ebenfalls von venezolanischen Sicherheitskräften erschossen. Die beiden Frauen gründeten schließlich die Nichtregierungsorganisation Madres Poderosas („Mächtige Mütter“), nachdem sie an mehreren Menschenrechts-Workshops teilgenommen hatten, die vom Komitee der Angehörigen der Opfer des Caracazo (Cofavic) und von im Land befindlichen Mitgliedern der UN angeboten wurden.
Madres Poderosas wurde im September 2021 in Caracas gegründet und besteht bislang aus sieben Müttern und einer Schwester von außergerichtlich hingerichteten Menschen. Sie begleiten und unterstützen andere Familien und stellen psychologische Hilfe, Rechtsberatung sowie Lebensmittel und Unterrichtsmaterial für die Kinder der Getöteten zur Verfügung.
Sohn, Bruder und zwei Neffen getötet
Die Minderjährigen werden von ihren Großeltern versorgt, denn die Aktivistinnen können keiner geregelten Arbeit nachgehen, da sie ihre Zeit damit verbringen, zu Gerichtsprozessen zu gehen. Lina Rivera ist eine der „mächtigen Mütter“. Innerhalb von nur sechs Monaten töteten venezolanische Sicherheitskräfte ihren Sohn, ihren Bruder und zwei Neffen. Sie muss nun neun Enkel*innen versorgen, eine Arbeit, die sie viel Kraft kostet.
Die acht Frauen wollen nicht als Opfer gesehen werden, weil sie keine Opfer sind. In Wirklichkeit sind sie kämpferisch geworden und tun alles, was in ihrer Macht steht, um den Ruf ihrer Söhne und Brüder wieder herzustellen und Gerechtigkeit zu erlangen.
„Nichts wird mir meinen Sohn zurückbringen. Aber ich will vermeiden, dass diese außergerichtlichen Hinrichtungen weiter passieren“, betont Ivonne. Die Frau mit weißem Teint und gelb gefärbten Haaren demonstriert Stärke, obwohl sich ihre Augen mit Tränen füllen, jedes Mal, wenn sie von ihrem Sohn spricht. „Ich will vermeiden, dass andere Mütter denselben Schmerz durchmachen, den wir durchmachen müssen. Wir haben keine Kriminellen groß gezogen“.
Nach dem Geburtstag erschossen
Carmen Arroyo verlor ihren Sohn Cristian Alfredo Charris Arroyo am 24. September 2018 im Viertel La Dolorita, einer Gemeinde von Petare, der größten Armensiedlung im Großraum von Caracas. Cristian wurde am Tag nach seinem Geburtstag getötet. Im Untersuchungsbericht stehen die Namen von 20 Beamten der FAES, die an der Operation teilgenommen haben. Niemand von ihnen wurde verhaftet.
Cristian war Carmens einziger Sohn. Sie hat ihn alleine groß gezogen. Der 25-Jährige war ein beliebter Friseur und Basketballspieler in seinem Viertel. Nach Angaben der Polizei war er Teil einer kriminellen Bande und wurde gesucht wegen Raubs, Erpressung und Mord.
„Selbst wenn man davon ausgeht, dass Cristian 2016 einen Mann namens Jeferson Gil umgebracht hätte: Warum haben sie dann meinen Sohn nicht schon vorher gesucht? Ein Verbrecher hat keinen festen Wohnsitz, aber meinen Sohn konnten sie einfach Zuhause finden. Sie haben meinen Sohn kriminalisiert, weil er ein Junge aus einem Armenviertel war“, berichtete Carmen mit ruhiger Stimme. Ihr dunkles Gesicht mit den markanten Zügen ist ein Spiegelbild ihres Schmerzes.
Ivonne und Carmen begleiten andere Mütter bei den Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen; sie sprechen ihnen Mut zu, damit diese während der Prozesse nicht ohnmächtig werden. Keine von ihnen hat eine geregelte Arbeit, so dass sie manchmal nicht einmal genug Geld für den Bus haben, der sie von ihrem Zuhause in den Armensiedlungen in das weit entfernte Zentrum von Caracas bringt.
Bis zu zweimal pro Woche statten die Gründerinnen von Madres Poderosas den mit ihren Fällen betrauten Staatsanwält*innen einen Besuch ab um herauszufinden, ob es Fortschritte gibt. Meistens erhalten sie keine Antwort von den Behörden. Dennoch geben sie nicht auf, denn seit ihre Söhne umgebracht wurden, haben sie nichts mehr zu verlieren.
„Wir kämpfen gegen den Schmerz“, bekräftigt Carmen. „Wir wissen, dass das nicht einfach ist, aber wir machen weiter. Wir können nicht anders, denn wir haben keine Kriminellen groß gezogen, sondern gute Jungs. Und das Einzige, was uns jetzt bleibt ist, ihren guten Ruf zu verteidigen.“
Aus den Müttern sind Anwältinnen geworden, Anklägerinnen, Menschenrechtsverteidigerinnen und Kontaktpersonen zu den mit ihren Fällen betrauten Staatsanwält*innen. Sie kennen die juristischen Begriffe und wissen, dass es sich bei außergerichtliche Hinrichtungen um Menschenrechtsverbrechen handelt.
Keine Festnahmen, kaum Ermittlungen, unerklärliche Verzögerungen
Die Organisation Cofavic hat ermittelt, dass 92 Prozent der Fälle von außergerichtlichen Hinrichtungen gar nicht erst zur Anklage gebracht werden. Bei 30 Prozent gibt es unerklärliche Verzögerungen bei der Weitergabe wichtiger Unterlagen wie etwa Autopsieberichte, und in 96 Prozent der Fälle wurden die Verantwortlichen nicht festgenommen.
Die Mütter müssen selbst für die Kopien der Berichte bezahlen, wenn sie diese überhaupt erhalten, weil es dafür in den Gerichten kein ausreichendes Budget gibt. Dazu kommen weitere Niederlagen wie die häufigen Wechsel der Staatsanwaltschaften, schlechte Behandlung seitens staatlicher Angestellter oder wenn sie gar nicht erst angehört werden. Einmal kamen sie zum Gericht und es gab keinen Strom.
Im Fall des Sohnes von Ivonne wurden die ermittelnden Beamt*innen mindestens sechs Mal ausgewechselt. „Ich höre erst auf, anzuklagen, wenn ich sterbe“, sagt Ivonne. „Die haben keine Ahnung, mit welchem Aufwand wir unsere Kinder in einem Viertel voller Drogen und Waffen groß ziehen, damit aus ihnen etwas wird.“
Für Lina Rivera sind die Madres Poderosas so etwas wie das Licht in dem dunklen Tunnel, in dem sie sich seit dem Verlust ihrer vier Angehörigen befunden hat. Als in den Jahren 2017 und 2018 nach und nach ihr Sohn, ihr Bruder und zwei Neffen getötet wurden, hatte sie Angst, die Fälle weiter zu verfolgen. Doch dann lernte sie Ivonne und Carmen kennen lernte, In der Gruppe sieht sie wieder einen Sinn, um weiter zu kämpfen.
UNHCR fordert Auflösung der Sondereinheit
Im Juni 2019 kam die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet nach Venezuela. Ivonne und Carmen waren Teil einer Gruppe von Angehörigen von
Opfern von Menschenrechtsverbrechen, die Bachelet ihre Berichte über tödliche Polizeigewalt vortragen konnten. Daraufhin empfahl das UNHCR der Regierung von Nicolás Maduro, übermäßige Gewalt der Sicherheitskräfte auf Demonstrationen zu stoppen und zu verhindern. Außerdem sollte die venezolanische Regierung außergerichtliche Hinrichtungen untersuchen und die Spezialeinheit FAES auflösen. Doch stattdessen bekräftigte Präsident Maduro seine Unterstützung für die Eliteeinheit der Nationalpolizei.
Nach Daten der im Exil lebenden ehemaligen Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz wurden zwischen Januar 2015 und Juni 2017 8.291 außergerichtliche Hinrichtungen verübt. Die Organisation Cofavic hat sogar 11.328 von staatlichen Sicherheitskräften begangene Hinrichtungen zwischen 2012 und März 2020 gezählt.
Eine der Frauen, die sich erst vor Kurzem den Madres Poderosas angeschlossen hat, ist Miyanllela Fernández. Beamte der FAES töteten ihren 23-Jährigen Sohn Richard Jesús Briceño Fernández mit zwei Schüssen. Sie sah seine Verletzungen und hörte seine Schmerzensschreie, bevor er das Bewusstsein verlor.
Massaker im Armenviertel
Am 8. Januar 2021 fand eine groß angelegte Polizeioperation in La Vega statt, einer Armensiedlung im Westen von Caracas. Ziel sollte die Festnahme von Angehörigen einer Gangsterbande sein. Die NGO Monitor de Víctimas registrierte dabei 14 Todesopfer staatlicher Gewalt, nach inoffiziellen Angaben wurden bis zu 24 Menschen getötet. Eine Bericht von Amnesty International fand genügend Hinweise für mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungen, die Menschenrechtsverbrechen darstellen könnten.
Miyanllela Fernández ist seitdem mehrfach dem FAES-Beamten begegnet, der mutmaßlich ihren Sohn erschossen hat. Auch Carmen Arroyo hat den Beamten gesehen, der mutmaßlich in den Tod ihres Sohnes verstrickt ist. „Immer, wenn ich drei der Beamten gesehen habe, die damals dabei waren, musste ich mich zwingen, nicht den Tod meines Sohnes zu rächen“, erzählt Miyanllela. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie gekommen waren, um meinen Sohn zu töten, hätte ich ihn mitgenommen und wäre nicht mit ihm im Haus geblieben.“
Seitdem ihr Sohn erschossen wurde, hat Carmen beschlossen, Jura an der Universität zu studieren. Bislang hat sie noch keinen Studienplatz bekommen, aber ihr Ziel ist klar: Bildung und Empowerment.
Maritza Molina, ein weiteres Mitglied von Madres Poderosas, steht bereits kurz vor dem Abschluss ihres Jurastudiums an der Katholischen Universität Santa Rosa. Ihr Sohn, der Arzt Billi Daniel Mascobeto Molina, wurde am 29. Februar 2021 in Barlovento, Bundestaat Miranda, erschossen.
Nach fast zehn Jahren besteht die Aktie zum Tod ihres Sohnes aus 14 Teilen und ging durch die Hände von 21 Staatsanwält*innen. Niemand hat den Fall bislang gelöst. Sie schloss sich Madres Poderosas an, weil ihr die anderen Frauen Kraft und Motivation geben, weiterhin Gerechtigkeit einzufordern.
Der Artikel wurde zuerst auf dem Portal Open Democracy veröffentlicht.
Frauen wehren sich gegen außergerichtliche Hinrichtungen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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