Die Werke von Marta Harnecker waren für uns der politische Einstieg

(São Paulo, 17. Juni 2020, Brasil de Fato).- Im Gespräch über die Klassiker der Weltliteratur kamen der damalige Vizepräsident Boliviens Alvaro Garcia Linera und der spanische Kongressabgeordnete Pablo Iglesias auf die Frage zu sprechen, wie die politische Entwicklung des jeweils anderen begonnen hatte, woraufhin Iglesias feststellte: „Für uns alle waren die Werke von Marta Harnecker doch irgendwie der politische Einstieg”. Das gilt auch heute noch für Tausende Menschen, die jüngsten Exponent*innen der Linken sowie etliche, die sich in den letzten vier Jahrzehnten für marxistische und sozialistische Ideen begeistert haben. Es ist wahrscheinlich keine Übertreibung zu sagen, dass sich Marta Harnecker mit der Veröffentlichung ihrer „Cuadernos de Educación Popular” in den 70er Jahren, gefolgt von „Los conceptos elementales del materialismo histórico“, zur wichtigsten Verbreiterin marxistisch-leninistischer Ideen in Lateinamerika entwickelt hat. Zugleich ist ihr eigener Werdegang als Militante und Intellektuelle beispielhaft für die Entwicklung der lateinamerikanischen Linken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Frankreich – Chile – Kuba – Bolivien

Geboren 1937 in Santiago de Chile, entstand Marta Harneckers Kampfgeist in der katholischen Jugend, später war sie wie viele ihrer Zeitgenoss*innen fasziniert von der kubanischen Revolution. In Frankreich war sie Schülerin von Louis Althusser, nach ihrer Rückkehr nach Chile beteiligte sie sich aktiv am Aufbau der Regierung Salvador Allendes. In dieser Zeit entstanden ihre „Cuadernos ” – ein Versuch, möglichst viele Arbeiter*innen in den Fabriken und auf dem Land in die politischen Diskussionen einzubeziehen. Nach Pinochets Staatsstreich exilierte sie nach Kuba, von wo aus sie über die Situation in Kuba, aber auch über die sandinistische Revolution und die Revolution in El Salvador schrieb und reflektierte. Ab den 1990er Jahren untersuchte sie die ersten Erfahrungen mit progressiven Regierungen in Südamerika, darunter die ersten Legislaturperioden des „Partido de los Trabajadores” in Brasilien und des „Frente Amplio” in Uruguay. Schließlich befasste sie sich mit dem bolivarischen Prozess in Venezuela und arbeitete als Beraterin des Staatspräsidenten Hugo Chávez.

Eine „organische Intellektuelle“

In den 90er Jahren, nach dem Fall der Berliner Mauer, nutzte eine akademische und eurozentristische Elite die Welle der Kritik an der Sowjetunion, um Harneckers Analysen als „mechanistisch” und „lehrbuchhaft” zu diskreditieren. Dabei war Marta das genaue Gegenteil der intellektuellen Aristokratie, sie war die fleischgewordene „organische Intellektuelle”, tief verbunden mit den politischen Bewegungen, den Widersprüchen und Fragen unserer Zeit. Eine ihrer Stärken war die Fähigkeit, die Anstrengungen der vorangegangenen Periode selbstkritisch zu betrachten. Ihre in den 1990er Jahren verfassten Werke besaßen wie die Arbeiten aus dem vorangegangenen Jahrzehnt die Sensibilität, neue Praktiken und Vorgehensweisen der lateinamerikanischen Linken zu erkennen. Ihre Untersuchungen behandeln die Besetzungen der Landlosenbewegung sowie Ermächtigungserfahrungen in ganz Südamerika.

Analysen zur Krise der Linken

In ihrem Essay „Los desafios de la izquierda latinoamericana” nennt Harnecker drei Faktoren für die Krise der Linken. Die theoretische Krise: Mit der Aufgabe des historisch-dialektischen Materialismus als Instrument zur Analyse der Wirklichkeit gelingt es der Linken nicht mehr, die Widersprüche bei der Analyse der Wirklichkeit zu erkennen und Veränderungen der Arbeitswelt und der Gesellschaft zu verstehen. Folglich ist sie nicht mehr in der Lage, ein Programm zur Transformation der Verhältnisse zu entwickeln, das ist die zweite Krise. Drittens sind die Instrumente der gesellschaftlichen Kämpfe des 20. Jahrhunderts nicht fähig, sich den Herausforderungen der neuen Zeit zu stellen, sei es aufgrund ihrer eigenen mangelnden Flexibilität oder aufgrund der beiden zuvor erwähnten Faktoren.

Ihr Buch „Un mundo a construir“ ist in mancherlei Hinsicht eine Synthese der letzten zwei Jahrzehnte ihrer Arbeit. Darin zieht Marta Bilanz aus den Erfahrungen mit den progressiven Regierungen jener Zeit in Südamerika. Ohne Sektiererei und ohne selbstgefällig zu klingen, untersucht sie Fortschritte und Widersprüche. Sie benennt das Machtinstrumentarium des Volkes und betont, dass es keine Veränderung geben wird, wenn nicht das Volk als Protagonist den wesentlichen Anteil des Prozesses selbst in die Hand nimmt ‑ ohne in Formeln zu erstarren und ohne ständig darauf hinzuweisen, dass jede Veränderung in einem Land von den jeweiligen Machtverhältnissen abhängt.

Das Hegemonie-Konzept Gramscis

Im dritten Teil von „Un mundo a construir” thematisiert Marta erneut das neue politische Instrument, das auch in „Ideas para a lucha” diskutiert wird. Harnecker greift Gramscis Hegemoniekonzept auf, das von der Fähigkeit des Volkes, die eigene Sicht auf die Welt und ihre Interpretation der Wirklichkeit zu einem universalen Projekt zu machen, ausgeht. Aufgabe des politischen Instruments ist die Konstruktion der neuen Hegemonie. Dadurch wird es zum Träger eines Projekts, das für die gesamte Gesellschaft Gültigkeit besitzt. Dieses Instrument entsteht im Kampf – oder besser gesagt, in den vielfältigen und unterschiedlichen gegenhegemonialen Kämpfen- und es muss die Fähigkeit besitzen, die Annäherung an dieses Projekt zu ermöglichen und einen breiten und vielfältigen gesellschaftlichen Block zu bilden, der sich diesem neuen Gesellschaftsprojekt verschreibt. Daher muss dieses Instrument kollektiv verwaltet werden, und nicht bürokratisch oder als Ausdruck monolithischen Denkens.

Somit ist dieses neue von dem politischen Instrument geleitete Projekt Ergebnis einer Weltvision, einer gegenhegemonialen Interpretation der Realität, die sich in eine Kampfplattform übersetzt, fähig, das Kräfteverhältnis innerhalb der Gesellschaft zu verändern und echten Wandel im Leben der Menschen herbeizuführen, deren Militanz den zukünftigen Generationen als Vorbild dienen soll.

Politik ist die Kunst, das Unmögliche zu tun

Tatsächlich handelt es sich um eine komplexe Gleichung, in der neue Organisationsformen nicht a priori konstruiert werden – und niemals konstruiert werden können. Wenn sie als Ergebnis der Kämpfe dieser Zeit entstehen und ein Podium für reale und konkrete Forderungen hervorbringen, das in der Lage ist, die Realität zu transformieren und die Kräfteverhältnisse zu verändern, dann in dem Maße, wie es gelingt, das Bewusstsein zu schärfen und andere Menschen und Bevölkerungsschichten für dieses Projekt zu gewinnen. Nicht um das Mögliche zu verlangen. Wie das neoliberale Projekt uns zeigt, gleicht das Mögliche einer homöopathischen Dosis. Wie Marta immer betonte: Politik ist die Kunst, das Unmögliche zu tun.

Nur eine organische Intellektuelle, die gemeinsam mit dem Volk kämpft, kann die Dilemmata der politischen Bewegung so sensibel verstehen und statt Formeln Wege vorschlagen, um die theoretische, programmatische und organische Krise zu überwinden. Im Juni 2019 verstarb Marta Harnecker im Alter von 73 Jahren, doch ihre Werke werden weiter gelesen. Auch künftig werden viele künftige Aktivist*innen mit Marta Harneckers die ersten Schritte ihrer politischen Entwicklung wagen.

Zuerst erschienen in: Front. Instituto de Estudios Contemporáneos

Übersetzung: Pia Hawle

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