„Wohin sollen wir gehen, wenn sie uns rauswerfen?“

(Buenos Aires, 21. Mai 2023, ANRed).- Sechsundvierzig Familien mit 28 Kindern könnten auf der Straße landen, wenn die Regierung Buenos Aires das Hotel Montreal im Viertel Constitución wie geplant räumen lässt. Die Bewohner*innen fordern eine würdige Bleibe. Das Onlinemedium ANRed hat die Mieter*innen getroffen, um mehr über ihre Geschichte und ihren Widerstand zu erfahren.

Miete kassiert und nichts gemacht

Die Mittagssonne reicht nicht aus, um die Flure der drei Stockwerke und das Erdgeschoss des Hotels Montreal im Zentrum von Buenos Aires zu erwärmen. Liegt es an den feuchten Wänden? Oder an den kaputten Küchenfenstern? Die argentinische Hauptstadt ist voll von solchen „Familienhotels“. Meist handelt es sich um alte Gebäude, die niemand instand hält. Das Hotel Montreal wehrt sich gegen die Vernachlässigung: Die Instandhaltung haben die dort lebenden Familien selbst übernommen – so gut sie können und mit dem, was sie haben. Viele Familien teilen Bad und Küche, nur wenige haben ein eigenes Badezimmer. Die Gasbrenner, die als Herd fungieren, haben keine Drehknöpfe mehr. Die Kloschüsseln verlieren Wasser. Auch Duscharmaturen fehlen, irgendjemand muss sie mitgenommen haben. Die Besitzer haben jedenfalls keinen Ersatz besorgt. Geduscht wird mit dem Wasserstrahl aus der Leitung. Durch ein kaputtes Fenster neben dem Herd dringt die Kälte. Für den Gang in die Küche ziehen sich die Bewohner*innen dicke Mäntel an, als wollten sie auf die Straße gehen. Die Besitzer, Miguel und Alejandro Sproviero, führen schon seit Jahren keine Reparaturen mehr durch, obwohl sie eine stattliche Miete für die winzigen Zimmer fordern. Hier passt zwar gerade so ein Doppelbett und ein Tisch für zwei hinein, trotzdem leben hier oft vier- oder fünfköpfige Familien. Nun hat die Stadtregierung angeordnet, das Hotel zu räumen. Grund dafür ist, dass die Besitzer schon seit über 30 Jahren keine Grundsteuer zahlen. Sollte es wirklich zu einer Räumung kommen, bleiben die 46 Familien mit 28 Minderjährigen ohne Obdach.

Ein Zuhause für Menschen mit sehr wenig Geld

Im Gegensatz zu touristischen Hotels leben im Montreal vor allem Personen, die sich mit prekärer Arbeit, Gelegenheitsjobs und Sozialhilfen über Wasser halten. Keine*r der Bewohner*innen hat eine offizielle Arbeit. Viele sind Zugezogene aus anderen Provinzen Argentiniens, die sich in der Hauptstadt eine Arbeit erhofften, oder Einwander*innen aus Paraguay, Peru und Senegal. So auch Mariela Morel, die vor 20 Jahren aus Paraguay kam. Ins Montreal zog sie vor zwei Jahren. Nach ihrer Trennung brauchte sie eine neue Wohnung. Mariela zahlt umgerechnet knapp 100 Euro pro Monat. Das Bad teilt sie sich mit drei Familien. Ihr einziges festes Einkommen ist das Arbeitslosengeld, aber das reicht nicht zum Leben. Täglich muss sie sich immer irgendwas dazu verdienen, damit es bis ans Monatsende reicht. Ihr Sohn Emanuel lebt mit seiner Partnerin, seiner 13-jährigen Tochter und seinem Baby im Hotel Montreal. „Seit ich hier lebe, seit vier Jahren, kämpfe ich jeden Tag. Ich mache Gelegenheitsjobs und beziehe Arbeitslosengeld, aber in manchen Monaten komme ich trotzdem nicht über die Runden. Ich habe ein paar Wände unserer Wohnung in Ordnung gebracht, weil die ganze Feuchtigkeit meinem Baby nicht guttat. Die Besitzer haben mir diese Reparaturen nie bezahlt“, erzählt Emanuel.

Nachbarschaftliche Organisierung

Silvia lebt gemeinsam mit ihren beiden Söhnen in Zimmer 28 im zweiten Stock. Die Familie kam vor drei Jahren auf der Suche nach besseren Lebensumständen ins Hotel. Ihre Heimat mussten sie pandemiebedingt verlassen. „Es gibt hier zwei Gasflammen, die alle Familien des zweiten Stocks nutzen. Wenn wir kochen wollen, müssen wir also Schlange stehen, manchmal bis Mitternacht. Um das ganze Hotel sauber zu halten und zu desinfizieren, organisieren wir uns. Das Bad teile ich mir mit vier weiteren Familien“, so Silvia. Aktuell ist die 42-Jährige arbeitslos. Sie sucht dringend nach einer neuen Stelle, aber ihr Asthma und ihre Schilddrüsenerkrankung machen die Jobsuche zu einem schwierigen Unterfangen. „Lange habe ich als Köchin in einer Kantine gearbeitet – für einen Hungerlohn. Heute bin ich eine der vielen, die um einen Teller Essen für die Kinder anstehen. Manchmal vergehen 14 Tage, ohne dass ich Bargeld habe. Gott sei Dank helfen mir Leute aus der Kirche mit Spenden. Und meine Ärztin unterstützt mich auch sehr mit Medikamenten.“ Silvia zahlt rund 140 Euro für ihre Wohnung.

Das ist so unfair, was uns hier passiert!“

„Der Mann in Zimmer 35 ist etwas verwirrt und vergisst Sachen. Wir haben ihn darauf hingewiesen, dass er im Mai keine Miete zahlen soll, denn wenn eine Räumungsanordnung vorliegt, dann darf das Hotel keine Miete verlangen. Am Tag darauf kam die Hotelmanagerin und klopfte an seine Tür. Sie sagte ihm, dass sie ihn rauswerfen, wenn er keine Miete zahlt. Sie nahm ihm nicht nur Geld für die Miete ab, sondern auch für Strom und Fernsehen. Dabei zahlen die Besitzer gar keinen Strom – das machen wir selbst, wir brauchen ja Licht und so weiter. Dasselbe hat sie mit einer Frau aus dem Erdgeschoss gemacht, die eine behinderte Tochter hat. Die Frau wusste gar nichts von der Räumung, und als sie davon erfuhr, wollte sie ihr Geld zurück, aber die Managerin hat es ihr nicht wiedergeben“, erzählt Silvia.

Die 28-jährige Jaqueline ist recht neu im Haus. Sie lebt seit Februar mit ihrem Partner und ihren sieben und drei Jahre alten Töchtern in einem Zimmer. Dieses hat ihr die Managerin auf völlig irreguläre Weise vermietet – denn schon mehrere Monate zuvor hatte die Stadtregierung das Management über die geplante Räumung in Kenntnis gesetzt. Jaqueline und ihr Partner nehmen regelmäßig Gelegenheitsjobs auf dem nahegelegenen Flohmarkt im Patricios-Park an. „Wir machen uns große Sorgen. Es ist sehr schwer, eine Mietwohnung zu finden, wenn man Kinder hat.“

Ema López ist 40 Jahre alt. Sie lebt seit 2019 mit ihren beiden Kindern im Hotel Montreal. Ihre achtjährige Tochter ist geistig behindert, daher bekommt sie staatliches Wohngeld. Die Familie lebt von den Suppenküchen, weil ihr Einkommen nicht ausreicht. „Wir sind richtig sauer auf die Stadtverwaltung! Sie haben uns nie geantwortet. Hier leben Senior*innen und fast 30 Kinder, vier davon mit Behinderung. Als ich zum Bürgeramt gegangen bin, bin ich weinend hinausgekommen. Das ist so unfair, was uns hier passiert! Wir haben hier nie umsonst gewohnt. Wir mussten die Miete immer selbst zahlen, ich habe noch alle Rechnungen. Und jetzt wollen sie uns einfach rausschmeißen!“

„Ich habe Angst, dass ich auf der Straße lande“, sagt auch Raúl. Er lebt seit sieben Jahren im Hotel Montreal. „Meine Augen funktionieren nur sehr schlecht, und außerdem habe ich Probleme mit der Leber. Da bin ich auch in Behandlung. Ich halte mich mit meiner Rente über Wasser. Wohin soll ich denn dann gehen?“, fragt sich der 64-Jährige.

Betrug im großen Stil

Keine der Zimmertüren hat ein Sicherheitsschloss. Weil es auch keine Kontrolle darüber gibt, wer im Hotel ein- und ausgeht, mussten sich die vielen Mieter*innen selbst Schlösser und Ketten kaufen. Miriam Estela Escurra, Managerin des Hotels hat lange Zeit dafür gesorgt, dass die zahlreichen Bescheide des Finanzministeriums über die Räumung des Hotels nicht bei den Bewohner*innen ankommen. So konnte sie weiterhin ungehindert die Miete verlangen für die kleinen, feuchten Zimmer mit Gemeinschaftsbad und geteilter Küche. Damit war erst Schluss, als eine Mieterin zufällig einen der Bescheide fand, bevor er die Managerin erreichte. So erfuhren die 46 Familien, dass für Ende Mai eine Räumungsanordnung ohne geplante Verlängerung drohte. Und sie erfuhren von den immensen Schulden des Hotels, die die Besitzer seit Jahren nicht abbezahlen, obwohl sie regelmäßig von allen Bewohner*innen Miete einnehmen. Als die Nachbar*innen sich daraufhin entschieden, im Mai kollektiv die Mietzahlung zu verweigern, suchte sich die Managerin die Schwächsten ihrer Gemeinschaft heraus. Mariela war eine der ersten, die von der Räumung erfuhren. Sie alarmierte die anderen Familien. Aktuell warten die Bewohner*innen auf die Antwort der Stadt Buenos Aires, die niemals kommen wird. Währenddessen kassiert die Managerin weiter illegal die Miete: „Sie bedroht die Ältesten damit, dass sie auf der Straße enden werden. Sie sagt, dass wir uns das mit der Räumung nur ausgedacht haben. Der Besitzer hat sich nie blicken lassen. Auf dem Bürgeramt haben sie mir dazu geraten, die Managerin anzuzeigen“, erklärt Mariela.

Wir wollen keine Geschenke und keine Almosen!“

Und welche Lösung schlägt die Regierung vor? „Sie bieten uns lediglich ein Wohngeld an, aber das löst ja nicht das Problem. Was wir wollen, ist ein würdiger Ort zum Wohnen. Wir wollen nicht, dass uns der Staat Geld schenkt, wir wollen, dass unsere Kinder ein Dach über dem Kopf haben, das wir uns leisten können. Wir sind bereit, jeden Monat für eine würdige Bleibe zu zahlen, wir sind es ja gewohnt, uns immer wieder Geld auf irgendeine Weise zu besorgen“, versichert Mariela. Der Stichtag für die Räumung wurde auf den 23. Mai um 9 Uhr morgens festgesetzt. 46 Familien sind nun im Widerstand, gemeinsam mit Mieter*innenverbänden und verschiedenen sozialen Organisationen. Angst und Unsicherheit begleiten die Bewohner*innen jeden Tag. Aber sie sind organisiert und treffen sich, um den Widerstand zu planen und sich gegen die Obdachlosigkeit zu wehren. Sie wollen keine Geschenke, keine Almosen, sondern würdige Wohnungen, die sich mit ihren Einkommen bezahlen lassen.

Übersetzung: Patricia Haensel

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