Über 50 000 Verschwundene während sechsjähriger AMLO-Regierung

Verschwundene
Ich geb dir meine Stimme, wenn du mir meinen Bruder wiederbringst“
Grafitti im Bundesstaat Jalisco, mexiko
Foto: Mtenaespinoza via wikimedia
CC BY-SA 4.0

(Mexiko-Stadt, 28. Mai 2024, adondevanlosdesaparecidos).- Das nationale Register der vermissten Personen (Comisión Nacional de Búsqueda, CNB) hat seine offiziellen Zahlen der verschwundenen Personen nach unten korrigiert. Im Rahmen der nationalen Fahndungsstrategie seien einige Personen gefunden worden. Sie wurden nun aus dem Register gestrichen. Es bestehen allerdings weiterhin Bedenken aufgrund der Intransparenz dieses Prozesses. Jetzt tauchten neue Informationen über Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Zählung auf.

Jede Stunde verschwindet ein Mensch

Mehr als 50 000 Menschen sind während der Regierungszeit von Andrés Manuel López Obrador verschwunden. Dies meldete das Nationale Register der Verschwundenen und Vermissten (RNPDNO, Registro Nacional de Personas Desaparecidas y No Localizadas) am 14. Mai. Elf Tage später belief sich die Zahl allerdings auf 48.870 Opfer. Wie dem auch sei: Unterm Strich verschwand unter dieser Regierung durchschnittlich jede Stunde ein Mensch. Zum Vergleich: Die Regierung von Felipe Calderón, unter dem die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit begann, verzeichnete 0,49 Verschwundene pro Stunde. In der Regierung seines Nachfolgers Enrique Peña Nieto waren es 0,64 Verschwundene pro Stunde. Aktuell verzeichnet das RNPDNO 114184 verschwundene Personen, 44 Prozent dieser Menschen sind in der aktuellen Regierungsperiode verschwunden. Laut Santiago Corcuera, ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses gegen das Verschwindenlassen der Vereinten Nationen (CED, Committee against Enforced Disappearances), gab es in Mexiko vor Calderóns gescheiterter Sicherheitsstrategie keine vermissten Personen. „50.000 Verschwundene sind selbst für ein Land mit 130 Millionen Einwohnern erschütternd; es ist eine entsetzliche humanitäre Krise“, erklärt er. „Leider gibt es keine Sofortlösung, die Zahl der vorsätzlichen Tötungen und des Verschwindenlassens von Personen wird nicht von heute auf morgen zurückgehen. Aber wir müssen einen radikalen Wandel angehen, schrittweise, aber konsequent. Wir müssen die öffentliche Sicherheit wieder in den zivilen Bereich zurückführen, das heißt, wir müssen das aktuell vorherrschende militarisierte Modell schrittweise aufgeben.”

Reviktimisierende Zählmethoden

Im Juni 2023 kündigte die Regierung eine neue Zählung an. Mit den neuen Daten sollte die Zahl der Verschwundenen aktualisiert werden. Gleichzeitig sollte wohl verschleiert werden, dass die sechsjährige Amtsperiode dieser Regierung die mit den meisten Opfern war. Der Plan wurde im Dezember unter dem Namen „Einheitliche nationale Suchtrategie” (Estrategia Nacional de Búsqueda Generalizada) vorgestellt. Über Monate hinweg führte die Zählung zu zahlreichen Beschwerden von Angehörigen der Opfer. Bei Hausbesuchen und telefonischen Nachfragen wurden sie nach der Rückkehr ihrer verschwundenen Angehörigen gefragt. Dieses Vorgehen wurde als „reviktimisierend” bezeichnet und von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Auch wurden Befürchtungen laut, dass das nationale Register möglicherweise „frisiert“ wurde.

Frisierte Statistiken?

Seit dem 19. Mai verweist das RNPDNO auf seiner Website darauf, dass die Zahlen momentan aktualisiert werden, nachdem die im Rahmen der nationalen Strategie erzielten Funde offiziell bestätigt wurden. Das bedeute allerdings nicht, dass irgendwelche Datensätze gelöscht würden, betont das Register auf der Website. Die Regierung teilte mit, dass bis zum 16. März 20.193 als verschwunden gemeldete Personen ausfindig gemacht werden konnten. Bei mehr als der Hälfte der Personen sei dies durch Informationen der örtlichen Staatsanwaltschaft gelungen, bei den übrigen durch Hausbesuche und Sterbeurkunden. Ein geringer Teil der Personen, nämlich 191, befand sich in Gefängnissen. Die Daten des RNPDNO blieben davon unberührt; die Zählung wurde fortgesetzt, bis die Zahl von 50000 Verschwundenen in AMLOs sechsjährigen Regierungsperiode erneut überschritten wurde, obwohl  die offiziellen Zahlen auf 48.870 nach unten gesenkt worden waren.

Für Gabriella Citroni, Mitglied der UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen (Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances, WGEID), ist die Korrektur der Zahlen im RNPDNO durch die Einberechnung der vermeintlich Gefundenen besorgniserregend: der Prozess sei nicht transparent und könnte sich negativ auf die Familien der Opfer auswirken. Citroni wies darauf hin, dass es Präsident López Obrador war, der die Zahl der Verschwundenen, die seine eigene Regierung zu verantworten hat, in Frage stellte, und dass die WGEID Mexiko bereits einen Brief geschickt hatte, in dem sie ihre Besorgnis über die neue Volkszählung zum Ausdruck brachte.

Falsche Erfassung in etlichen Fällen

Die investigative Rechercheplattform „A dónde van los desaparecidos” (dt. “Wohin gehen die Verschwundenen”) hat über die falsche Erfassung in Dutzenden Fällen berichtet: von Opfern des „schmutzigen Kriegs“ [einer Periode staatlicher Repression gegen Oppositionelle und Aktivist*innen in den 1960er bis 1980er Jahren] bis hin zu den jüngsten Ereignissen. Darunter waren auch Personen, die als „aufgefunden” registriert wurden, in Wirklichkeit aber immer noch vermisst werden.

„Mexiko teilte als Antwort auf die Anfrage [der UN-Arbeitsgruppe] mit, dass im Grunde alles bestens sei. Tatsächlich erreichen uns aber weiterhin Informationen, die Anlass zur Sorge geben. Wir haben nichts dagegen, wenn die Zahl [der Verschwundenen] neu berechnet wird, wenn es hier tatsächlich ein Problem gibt. Aber es ist nach wie vor nicht transparent, wie das gemacht wird, und es gibt mehrere belegte Vorfälle, die für die Familien traumatisierend waren“, so Citroni in einem Interview. „Die Informationen, die die UN erreicht haben, stellen die Neuberechnung und die Senkung der Zahlen in Frage. Citroni betonte die Wichtigkeit der [korrekten] Volkszählung: Aus ihr ergeben sich alle staatlichen Verpflichtungen. „Wenn jemand nicht als vermisst gemeldet ist, wird nicht nach ihm oder ihr gesucht, die Rechte der Familie werden nicht anerkannt; außerdem  müssten wir diese Zahl mit der Gesamtzahl der betroffenen Angehörigen rund um die verschwundenen Personen multiplizieren“, so Citroni. Sie räumte ein, dass Mexiko über den weltweit besten rechtlichen und institutionellen Rahmen in Bezug auf das Verschwinden von Personen verfüge. Aber wenn dieser nicht umgesetzt werde und man nicht herausfinde, warum das Verschwinden von Personen weiterhin stattfinde, sei auch der beste Plan für die Katz.

Die 50.278 Fälle von verschwundenen Personen während der laufenden sechsjährigen Regierungsperiode sind fast doppelt so hoch wie die 26121 Fälle, die während der Amtszeit der Vorgängerregierung unter Felipe Calderón aufgetreten sind, legt man die Daten zugrunde, die im Februar 2013 von der damals neuen Regierung unter Enrique Peña Nieto veröffentlicht wurden. Das Innenministerium kündigte damals an, die Aufstellung werde noch nach unten korrigiert, und ehemalige Beamte der Calderón-Regierung wiesen die Zahl zurück – eine Geschichte, die sich in den folgenden sechs Jahren wiederholen sollte. „Solange sie nicht zu 100 Prozent bestätigt und durch vorherige Untersuchungen gestützt sind, handelt es sich nicht um Informationen, die bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden können“, erklärte damals Óscar Vega Marín, seinerzeit Staatssekretär für Nationale Sicherheit, gegenüber der Tageszeitung Milenio. Bis zum Ende der Amtszeit von Peña Nieto stieg die Zahl der Verschwundenen auf 40.180. Damit kamen während seiner Amtszeit 14.059 Opfer hinzu, wie Roberto Cabrera im Januar 2019 bei seinem Rücktritt von der Nationalen Suchkommission mitteilte. Das RNPDNO sprach am 25. Mai jedoch von 33.783 Verschwundenen während der PRI-Regierung.

AMLO hat das Problem nicht verstanden

Für Santiago Aguirre, Direktor des Menschenrechtszentrums Miguel Agustín Pro Juárez, zeugen die 50.000 Vermissten von einer Tragödie enormen Ausmaßes, die außergewöhnliche Maßnahmen erfordere. Er warnte jedoch davor, dass das Sprechen über bloße Zahlen zu sterilen Debatten über die bessere oder schlechtere Regierung führen könnte, wobei die Ursachen aus dem Blick verloren werden. „Trotz der offenkundigen Versuche, die Zahlen zu korrigieren, und selbst wenn man annimmt, dass die Zahl von 50000 noch revidiert werden muss, werden wir diese sechsjährige Amtszeit zweifellos mit mehreren zehntausend verschwundenen Personen beenden. Diese Lage ähnelt stark derjenigen in den sechsjährigen Amtszeiten von Peña Nieto und von Felipe Calderón“, führt er aus. „Das ist das Wichtigste, das man betonen muss: die Tatsache, dass das Phänomen nicht eingedämmt wird, dass die Zahl der Fälle von Verschwundenen im Land nicht abnimmt. Und ich denke, dass die derzeitige Regierung sich nicht mit dieser Realität auseinandersetzen wollte, weil sie das Phänomen nicht vollständig verstanden hat.” Er erklärte, López Obrador habe auf kritische Fragen der Beteuerung reagiert, dass seine Regierung nicht das Verschwinden von Menschen anordne, obwohl die Zahlen für eine Krise der „unkontrollierbaren Gewalt“ sprechen.

Miserable personelle Schulung, fragwürdiges Auffinden

Nach Angaben von CNB-Mitarbeitenden, die im Rahmen der Nationalen Strategie für die allgemeine Suche an Hausbesuchen teilgenommen haben, mangelte es bei der Zählung an angemessenen Protokollen und Schulungen. Im Februar interviewte die investigative Rechercheplattform „A dónde van los desaparecidos” vier ehemalige CNB-Beamte, die zusammen mit Mitgliedern des Ministeriums für Soziale Wohlfahrt (Secretaría de Bienestar, SB) Hausbesuche in den mexikanischen Pazifikstaaten und im Nordwesten des Landes durchführten. Aus Angst vor Repressalien, die sie daran hindern könnten, einen Arbeitsplatz zu bekommen, baten die Befragten darum, ihre Namen und die Bundesstaaten, denen sie zugewiesen wurden, nicht zu nennen. „Es war ein Tauziehen zwischen der [Nationalen] Suchkommission und dem Ministerium für soziale Wohlfahrt: Das Ministerium wurde mit dieser Arbeit beauftragt, verfügte aber nicht über das Wissen, die Techniken oder die Art und Weise, Fragen zu stellen, ohne eine Reviktimisierung zu verursachen“, erklärte eine der befragten Personen. „[Es gab] auch ein Sicherheitsproblem, denn natürlich suchen wir nach Menschen, von denen wir nicht wissen, warum sie vermisst werden, aber wir wissen, dass sie aus konfliktgeladenen Vierteln kommen. Das Sicherheitsrisiko ist hier für Beamte sehr hoch.”

Die Geschichten der Beamten deckten sich insofern, als dass es wenige Vorkehrungen für ihre Sicherheit gab. So wurde berichtet, dass sie beim Betreten bestimmter Gemeinden teilweise feststellen mussten, dass sie von bewaffneten Männern auf Motorrädern verfolgt wurden. Einer der Ex-Beamten räumte ein, dass er als Verwaltungsangestellter in der CNB arbeitete und, obwohl er keine Erfahrung im Umgang mit Opfern hatte, ohne vorherige Schulung in den Nordwesten des Landes beordert wurde, um an den Hausbesuchen teilzunehmen. In einem Bundesstaat im pazifischen Raum wurden sechs Teams gebildet, die 40 Besuche pro Tag durchführen sollten, zwischen acht Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags. In Wirklichkeit wurden allerdings nur 18 bis 30 Besuche pro Tag durchgeführt. Sie erklärten, dass die Hausbesuche auf der Grundlage von vier Ministeriums-geführten Listen erfolgten, auf denen die vermisste Person angeblich aufgeführt war. Da die Methode darin bestand, die Namen im RNPDNO mit Verwaltungslisten abzugleichen, um Lebenszeichen nach dem Datum des Verschwindens zu finden, stammten diese Listen aus Sozialprogrammen wie Sembrando Vida, Pensión para Adultos Mayores, Diconsa und Jóvenes Construyendo el Futuro. Die Beamten suchten die Adresse auf, die auf den Listen stand, nicht aber die Adresse der Person, die das Verschwinden gemeldet hatte.

„Es gab Personen mit demselben Namen. Die Informationen, die mir gegeben wurden, waren eine Tabelle auf dem Smartphone mit allen Informationen: vollständiger Name, mögliches Geburtsdatum, mögliches Datum des Verschwindens, ein möglicher ID-Code, der übereinstimmen könnte. Aber es gab 500 José Pérez in ganz Mexiko, und wenn ich in diesem oder jenem Bundesstaat, in dieser oder jener Gemeinde oder in dieser oder jener Siedlung war und vier José Pérez auftauchten, musste ich bei allen vier Adressen anklopfen.” Problematisch war außerdem, dass Mitglieder des Ministeriums gelegentlich die Suche ohne CNB-Beamte übernahmen und dass Personen als gefunden gemeldet wurden, die eindeutig nicht die Verschwundenen waren. „Im Register stand: José Pérez, geboren 1990, Alter  34. Aber der José Pérez hat Unterstützung aus dem Rentenprogramm „Pensión para Adultos Mayores” erhalten. Also sagte ich mir: ‚Nein, der ist es nicht. Ich werde wohl kaum nach einer 30-jährigen Person suchen, die Altersrente bezieht“, so ein ehemaliger Beamter. „Aber an die Beamt*innen aus dem Ministerium für Wohlfahrt wurden keine konkreten Informationen weitergegeben, wie sie die Aufgabe durchführen sollten, die sagten dann in so einem Fall: ,Ich habe José Pérez, 34 Jahre alt, im Seniorenprogramm entdeckt, hier ist sein Foto, wir haben ihn gefunden'“.

Nach Angaben des Befragten gab es in einem der Bundesstaaten eine Liste mit 4000 Personen, die angeblich über die Listen der Sozialprogramme gefunden wurden. „Aber dass wir sagen konnten, ja, das ist die [verschwundene] Person, und aus irgendeinem Grund ist sie bereits zu Hause, bloß dass ihr Name nicht von der Plattform entfernt wurde, das kam bei uns in nicht einmal zehn Prozent der Fälle vor.“

 

 

 

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