Oberster Gerichtshof gegen Elon Musk

Elon Musk STF
Nach Angaben des Fachportals DataReportal hat X 22 Millionen Nutzer*innen in Brasilien. Foto: privat

(Berlin, 16. Oktober 2024, poonal).- Am 8. Oktober 2024 autorisierte der Minister Alexandre de Moraes vom brasilianischen Obersten Bundesgericht STF (Supremo Tribunal Federal) die Wiederaufnahme der Aktivitäten des sozialen Netzwerks X (früher Twitter) in Brasilien. Der Minister betonte, dass die Entscheidung nur aufgrund der vollständigen Umsetzung aller Gerichtsbeschlüsse und des Respekts vor der brasilianischen Souveränität getroffen wurde. Zuvor hatte der Minister am 29. August 2024 die landesweite Aussetzung von X in Brasilien angeordnet. Die Entscheidung beruhte darauf, dass X keine Repräsentation mehr in Brasilien hatte, was nach brasilianischem Recht unzulässig ist.

Der Beschluss war einstimmig vom Ersten Gerichtskollegium [eine von zwei Kammern des STF , dem höchsten Gericht Brasiliens] bestätigt worden. Darüber hinaus entschied das STF, dass die Bankkonten von X und auch des Unternehmens Starlink, die beide dem Milliardär Elon Musk gehören, eingefroren werden müssen. Nach der Forderung, den Gerichtsbeschlüssen nachzukommen, und einem Antrag auf Wiederaufnahme der Tätigkeiten durch die Anwält*innen von X entschied Minister Alexandre de Moraes am 27. September, dass X drei Bedingungen erfüllen müsse, um wieder aktiv zu werden: Die Zahlung einer Strafe von zehn Millionen Reais (1,65 Millionen Euro), da X während der Sperrzeit weiterhin funktionierte, die Rücknahme aller Einwände von Starlink, das ebenfalls von der Entscheidung betroffen war, und die Begleichung der Schulden durch die rechtliche Vertretung.

Der Hintergrund

Soziale Medien spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Rechtsextremismus in Brasilien, was zum Erstarken der Anhänger*innen Bolsonaros führte, der bei der Wahl 2018 schließlich Präsident Brasiliens wurde. Die Verbreitung sogenannter „Fake News“ stärkte nicht nur Bolsonaro, sondern auch viele andere Personen, die durch die Verbreitung von Inhalten gegen Institutionen und gegen die in der Verfassung verankerten liberalen Werte über die sozialen Medien zu Politiker*innen wurden. Aus diesem Grund ergriffen die brasilianischen Institutionen zahlreiche Gegenmaßnahmen, insbesondere der STF und das Oberste Wahlgericht TSE [höchste Institution des brasilianischen Wahlsystems, das im brasilianischen System Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenz in allen Wahlprozessen hat].

Die Situation hätte nicht schlimmer sein können: Die Pandemie befand sich auf ihrem Höhepunkt, als Präsident Bolsonaro forderte, das Malariamedikament Chloroquin gegen Covid-19 einzusetzen. Da die Gouverneur*innen der Bundesstaaten und die große Mehrheit der Bürgermeister*innen in Übereinstimmung mit gerichtlichen Entscheidungen die empfohlenen Maßnahmen gegen das Virus ergriffen, klagte der Präsident dagegen. Doch der STF bestätigte alle Maßnahmen und garantierte damit die Unabhängigkeit der föderalen Ebenen. Dies führte zu einer Instabilität in Bolsonaros Regierung, und er begann, den STF noch direkter anzugreifen und sprach offen über dessen Schließung. Unterstützer*innen von Bolsonaro sprachen Drohungen gegen den Obersten Bundesgerichtshof und dessen Richter*innen aus. Vor dem Gebäude des Gerichtshofs demonstrierte eine bewaffnete Gruppe, die drohte, die Einrichtung zu zerstören.

Die Verbreitung falscher Nachrichten und die Bedrohung demokratischer Institutionen, einschließlich ihrer Mitglieder und deren Familien, fand vor allem über X statt. Das war der Anlass für den damaligen Präsidenten des STF, Bundesrichter Dias Toffoli, am 19. März 2019 durch einen Verwaltungsakt die Einleitung von Ermittlungen zu veranlassen und Alexandre de Moraes als Untersuchungsleiter zu benennen. Der amtierende Minister begann, mögliche Verbrechen direkt zu untersuchen, ohne dass die Polizei oder die Bundesstaatsanwaltschaft tätig wurden. Diese Entscheidung wurde von einigen politischen Parteien angefochten. Am Verfahren nahmen auch der Präsident des Instituts Brasilianischer Jurist*innen IAB (Instituto dos Advogados Brasileiros) und der Interessenverband von Unternehmen zur gezielten Ansprache bestimmter Menschengruppen ANATEC (Associação Nacional das Empresas de Comunicação Segmentada) teil. Der Schwerpunkt der Diskussion lag auf Artikel 43 der Verfahrensordnung des STF. Gemäß diesem Artikel ist der Gerichtshof befugt, Ermittlungen einzuleiten, wenn der Tatbestand auf dem Gelände des Gerichts stattfindet. Da die Straftaten über soziale Medien begangen wurden, kam der STF zu dem Schluss, dass sie als im Gerichtsgebäude begangen galten. Die endgültige Entscheidung des STF bestätigte die Gültigkeit des Ermittlungsverfahrens.

Dies blieb nicht die einzige administrative Maßnahme, die der STF ergriff, um in die Grundrechte der Brasilianer*innen und in das Funktionieren sozialer Netzwerke einzugreifen. Am 27. August 2021 veröffentlichte der STF eine Anordnung, die das „Desinformationsprogramm“ einleitete. Dieses beinhaltete eine Reihe von Maßnahmen, die von brasilianischen Institutionen eingeführt wurden, um die Verbreitung von Desinformation, insbesondere in den sozialen Medien, zu bekämpfen. Außerdem vereinbarte der STF eine Zusammenarbeit mit dem TSE im Rahmen dieses Programms.

Das Legitimationsproblem

Das Problem besteht darin, dass der Oberste Bundesgerichtshof STF keine verfassungsrechtliche Legitimation hat, Verwaltungsmaßnahmen dieser Art einzuführen, was von vielen Jurist*innen im Land als klar verfassungswidrig kritisiert wird. Hinzu kommt, dass das Oberste Wahlgericht TSE gesetzgeberische Kompetenzen besitzt und seine Präsidentin, Carmen Lucia, ebenfalls als Ministerin im STF war. Dies führt zu einer problematischen Machtkonzentration, da Klagen gegen Maßnahmen, die potenziell Grundrechte wie die Meinungsfreiheit verletzen könnten, letztlich vom STF selbst entschieden werden. Administrative Maßnahmen, Anordnungen und Urteile des TSE werden vom STF kontrolliert. Zudem gibt es erhebliche personelle Überschneidungen zwischen den beiden Institutionen. So ist Minister Alexandre de Moraes gleichzeitig Präsident des STF und Leiter des Ermittlungsverfahrens. Nach den Angriffen vom 8. Januar 2023, als Demonstrant*innen die Hauptquartiere der drei Staatsgewalten stürmten und teilweise Zerstörungen verursachten – was von den meisten Jurist*innen und Institutionen als Putschversuch bewertet wurde – erhielt Alexandre de Moraes‘ Vorgehen breite Unterstützung von der brasilianischen Linken und den Medien, die die Maßnahmen als notwendig zum Schutz der Demokratie und des Rechtsstaates ansahen.

Angesichts der großen Machtkonzentration in den Händen des Ministers bleibt jedoch das Verhältnis zwischen den demokratischen Institutionen angespannt. In diesem Fall bestätigt sich die These, dass in der Krise des Kapitalismus und dem damit einhergehenden Verfall seiner demokratischen Institutionen die Meinungsfreiheit zunehmend unter staatlichen Druck gerät.

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