Im Hafen Buenaventura warten die Gangs auf den Frieden

(Buenaventura, 12. Oktober 2023. InSight Crime).- Buenaventura ist der wichtigste Pazifik-Hafen Kolumbiens und einer der größten Drogenumschlagplätze. Die Stadt, lange Zeit umkämpft von verschiedenen kriminellen Gruppierungen, wurde nun zum Schauplatz der Friedensgespräche mit der Regierung. Bislang haben die Verhandlungen zwischen der Regierung und den kriminellen Vereinigungen in Buenaventura bereits zu einem Rückgang der Gewalt geführt, die in der Hafenstadt zuletzt zu einer humanitären Krise geführt hatte. Aber die sozialrechtlichen Verhandlungen stoßen auf Probleme. Die Regierung besitzt nicht die notwendige Mehrheit im Kongress, um ein neues Gesetz zu verabschieden, das es erlaubt, mit kriminellen Vereinigungen zu verhandeln. Die Spannungen rund um die Verhandlungen verstärken sich. Außerdem stieg die Kokainproduktion das zweite Jahr in Folge auf ein neues Rekordhoch an, was die Attraktivität des Hafens für die vielen Schmuggelbanden in Kolumbien zusätzlich erhöht. Bis jetzt gibt es noch keine sofortige Lösung für diese Probleme. Je mehr Zeit verstreicht, desto wahrscheinlicher wird ein erneuter Ausbruch des Feuers zwischen den rivalisierenden Banden, das bereits wieder zu zündeln beginnt. Dies könnte die Zukunft des ganzen Vollständigen Friedens in Gefahr bringen. William Carvajal Obregón alias „Jerónimo“, ein hochgewachsener, eindrucksvoller Mann in Militärhosen und schwarzem Shirt, ist der Sprecher der Shottas-Gang. Zusammen mit ihren Rivalen, den Espartanos, führen die Shottas Friedensgespräche mit Gustavo Petros Regierung. Petro ist mit seinem Plan des Vollständigen Friedens in den Wahlkampf gezogen und hat diesen auch gewonnen. Sein Ziel ist das Ende des seit sechs Jahrzehnten andauernden internen Konflikts in Kolumbien.

Die Gangs in Buenaventura

Seit den 90ern haben viele Akteure ihre gewalttätigen Spuren in Buenaventura hinterlassen: von der Frente 30 der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) bis zum Bloque Calima der AUC (Autodefensas Unidad de Colombia). Die Namen der Gruppierungen variierten über die Jahre hinweg, aber die Mitglieder blieben oft dieselben. Fast zehn Jahre lang kontrollierte die Gang La Local weite Teile des urbanen Zentrums Buenaventuras. Ende 2020 führten jedoch Wechsel an ihrer Führungsspitze zu einer gewaltvollen Spaltung und der Bildung zweier neuer Gruppierungen: Shottas und Espartanos. Der Ort Buenaventura teilt sich zwischen der Küste und einer nahen Insel auf. Die Espartanos kontrollieren den Teil der Stadt, der auf der Insel liegt und mit dem Festland über eine einzige Brücke verbunden ist, die gleichzeitig die Grenze zum Territorium der Shottas ist. Beide kriminellen Gruppierungen kontrollieren die verschiedenen Viertel der Stadt mit Hilfe von Gewalt, insbesondere dort, wo es einen Zugang zum Meer gibt. Dort, zwischen den auf Pfählen gebauten Häusern aus Holz und Messing, verstecken sich die klandestinen Anlegestege, werden die vielen kleinen Kahne abgefertigt, die mit den unterschiedlichen illegalen Waren beladen sind: Schmuggelware, Waffen und sogar Drogen. Der blutige Kampf ums Territorium zwischen den beiden Banden kam mit dem Beginn der Gespräche mit Petros Regierung am 19. Oktober 2022 fast vollständig zum Erliegen. Dennoch hat die Regierung noch immer keine rechtlichen Rahmenbedingungen, um mit den Friedensverhandlungen fortzufahren, und ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen gibt es kaum Fortschritte. Während der Vollständige Frieden auf Probleme in anderen Regionen des Landes stößt, entsteht in Buenaventura der Eindruck, dass die Zeit abläuft. InSight Crime sprach nun mit Jerónimo über die Erwartungen der Shottas in diesem kritischen Moment.

Sicherheit für die Familien

InSight Crime (IC): Welche Erwartungen haben die Shottas bezüglich der Friedensverhandlungen mit der Regierung? Was ist ihr Ziel?

Jerónimo (J): Die Menschen, die ich vertrete, wollen vor allem der stetigen Gefahr des Konflikts entkommen; sie wollen, dass damit Schluss ist, dass du nicht einfach so das Haus verlassen kannst, weil dir oder deiner Familie etwas passieren könnte, wenn du zwei Blöcke weit läufst. Unfreiwillig werden alle Familienmitglieder mit zum Ziel, und wohin sie auch gehen, sind sie in Gefahr. Das Ziel ist, das Ganze hier zu beenden und dass die Stadt tatsächlich zu einem ruhigen Ort werden kann. Vielen Familien, die mit dem Ganzen nichts zu tun haben, hat der Konflikt viel Unglück beschert. Man muss auch sagen, dass der Staat sich lange Zeit kein bißchen um Buenaventura geschert hat. Das Ziel ist deshalb auch, dass der Staat die jungen Menschen von Buenaventura nicht vergisst.

Mehr Unterstützung durch den Staat

IC: Also gibt es eine soziale Komponente in diesem Prozess?

J: Der Staat hat sich nie um Buenaventura gekümmert, weder um die urbanen noch um die ländlichen Gebiete. Buenaventura ist einer der Haupthäfen an der Pazifikküste, wirtschaftlich extrem bedeutend, aber vergessen vom Staat. Es gibt keine sozialen Investitionen. Und die Menschen leben in sehr prekären Verhältnissen, was dazu führt, dass sie ihren Lebensunterhalt Tag für Tag auf anderem Weg verdienen müssen. Eine Möglichkeit ist das, was man hier „Nebenverdienst“ nennt, und die sind oft der Grund für viele Probleme.

IC: Im Kontext dieser staatlichen Vernachlässigung: Wie hoch ist das Vertrauen darauf, dass die Regierung sich an die Abmachungen der Verhandlungen hält?

 J: Wir glauben sehr an die Regierung von Gustavo Petro, weil er sich bereits seit langem für die Arbeiterklasse einsetzt. Was sie bislang versprochen haben, haben sie auch umgesetzt, und wir hoffen, dass dies auch so bleibt. Allerdings gehen die Verhandlungen mit der Regierung nur sehr langsam voran. Deshalb ist die Waffenabgabe der letzte Punkt. Wenn nicht deutlich wird, dass die Regierung ihr Wort hält, warum sollte man dann auf seine Waffen verzichten? Wir hoffen, dass die Regierung sich um die Bedürfnisse des Volkes kümmert und ein nachhaltiges Programm für diejenigen implementiert, die sich heute mit Waffen erheben. Das wünschen wir uns am meisten.

IC: Wie verlaufen die Verhandlungen? In welcher Phase befinden sie sich im Moment?

J: Es laufen die sozialrechtlichen Verhandlungen, die sollen fürs Erste Ruhe im Hafen bringen, bis die Senatoren die Ley de Sometimiento (Gesetz zur Unterwerfung unter die Justiz) unterzeichnen. Dieses Gesetz soll den rechtlichen Rahmen für die Friedensverhandlungen bilden. Darin wird erst einmal gesagt: Das hier sind die Strafen, Wiederholen verboten. Darauf aufbauend sollen die Verhandlungen über die Minimalstrafen geführt werden, wie Geldstrafen und Sozialstunden Buenaventura. Nicht alle Strafen können Haftstrafen sein. Buenaventura, als Haupthafen an der Pazifikküste, wird von vielen Gruppen umkämpft. Hier gehen die Waren, die Drogen, die Schmuggelware und eine ganze Welt illegaler Dinge durch. Wirtschaftlich läuft es also immer gut. Wenn jemand aus Buenaventura die Stadt verlässt, kommen andere. Das muss immer mitberücksichtigt werden.

Waffenstillstand in Buenaventura

IC: Ist die Feindschaft der Gruppierungen in Buenaventura beendet?

J: Ja, es wurde ein Waffenstillstand ausgemacht: keine Gewalt. Es wurde sich auch auf ein Einschränken der Diebstähle und Erpressungen sowie die Aufgabe der unsichtbaren Grenzen geeinigt, denn diese stören die öffentliche Ordnung am meisten. Dieser Waffenstillstand wird seit einem Monat und zehn Tagen [das Interview wurde am 12. September 2023 geführt] eingehalten, und wir hoffen, dass es auch so bleibt.

IC: Wenn die Waffen niedergelegt werden, wie würdet ihr euch dann finanzieren?                              

J: Es muss eine Alternative geben, und diese soll im rechtlichen Rahmen festgelegt werden, denn wir brauchen einen Mechanismus, der Stabilität bietet und den Leuten das Nötige beibringt, damit sie in der Landwirtschaft, der Fischerei und Hafenarbeit tätig werden können. Außerdem müssen Arbeitsplätze in diesen Bereichen geschaffen werden, damit die Menschen nicht wieder straffällig werden.

Die Herausforderungen für den Friedensprozess

IC: Was sind die Herausforderungen, die in diesem Prozess gemeistert werden müssen?

J: Die größte Herausforderung ist es, den Waffenstillstand zu halten; denn dazu müssen die Mitglieder beider Seiten durch Sport und andere Freizeitaktivitäten beschäftigt  werden. Sie sollen ihre Talente entdecken, damit sie nicht dauernd denken: „Ich muss diesen töten“ oder „Ich muss mich an jenem rächen“ oder „Ich muss den dort ausrauben“. Natürlich gibt es einige gute Projekte, aber es muss auf kurze, mittlere und lange Sicht geplant werden.

IC: Was war das mit dem Waffenstillstandsbruch zu Beginn des Jahres?

J: Zu jenem Zeitpunkt wurde der Waffenstillstand gebrochen, weil die Regierung, die treibende Kraft hinter dem Abkommen, Urlaub gemacht hat. Und dann verstrich viel Zeit bis zum nächsten Treffen. Die Leute dachten schon, dass es keine weiteren Verhandlungen geben werde. Außerdem haben die gezahlten Unterstützungen nur bis Februar gehalten. Danach wurden die Risse erkennbar, und da die Regierung nicht die notwendige rechtliche Grundlage zur Fortführung der Gespräche mit uns hatte, konnte der Friedensprozess erst im August wiederaufgenommen werden. Der gesamte Prozess war kurz vorm Scheitern. Die sozialrechtlichen Verhandlungen sind der erste Schritt, aber stellen gleichzeitig auch einen Weg dar, die kriminellen Gruppierungen zu kontrollieren: Man hält sie ruhig, indem man ihnen sagt: „nein, das könnt ihr nicht machen, die Verhandlungen laufen doch schon“.

Persönliche Rache muss überwunden werden

IC: Wie ist die Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen [Shottas und Espartanos]?

J: Rache ist hier oft ein Thema, schließlich hat der da meinen Bruder umgebracht, und der hier hat einen Freund von mir umgebracht, der mit der Sache gar nichts zu tun hatte. Es wird also zu einem persönlichen Problem. Man versucht, dieser Problematik durch Sozialarbeit entgegenzuwirken, damit alle zusammenarbeiten und diese Rachesymptome verbessert werden können.

IC: Wer nimmt an diesen Verhandlungen teil?

J : Hier kommen ehemalige Mitglieder der FARC und Paramilitärs zusammen, sowie des Golfclans (auch bekannt als Autodefensas Gaitanistas de Colombia, AGC). Es gibt Mitglieder, die Teil beider Strukturen gewesen sind.

IC: Gibt es auch Mitglieder, die beschlossen haben, nicht Teil dieses Prozesses zu sein und deshalb nun ihren eigenen Weg verfolgen?

J: Ja, vor allem die, gegen die kein Haftbefehl vorliegt. Die denken nicht daran, sich zu unterwerfen. Aber sie bilden nur einen kleinen Teil.

IC: Glauben Sie, dass ein realer Frieden tatsächlich möglich ist?

J: Es kann sein, dass die Ruhe nur ein paar Jahre bestehen bleibt, denn wenn die Regierung keine Präsenz zeigt, wird die Gewalt zurückkommen. Wir wissen, dass es für diesen Fall sehr strenge Gesetze braucht. Wenn es diese nicht gibt, wird sich nichts ändern. Wir hoffen, dass die Regierung sich an die Abmachungen hält und es nicht so läuft wie bei den vergangenen zwölf oder 16 Friedensprozessen, die hier in Kolumbien schon gescheitert sind.

Übersetzung: Chantal Diercks

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