(Havanna, 5. Juli 2023, SEMlac).- Fehlende Wertschätzung, Altersdiskriminierung und Ausbeutung sind nur einige Formen der Gewalt gegen Senior*innen, von denen man in wissenschaftlicher Literatur lesen kann. Aber gibt es das auch in Kuba? Wie sieht diese aus? Gibt es Strategien, wie man dagegen vorgehen oder sie sogar verhindern kann? Um diese Fragen beantworten zu können, hat sich das kubanische Medium SEMIac mit drei Expert*innen der Universität Havanna aus verschiedenen Bereichen der Psychologie zusammengesetzt: Teresa Orosa, Präsidentin des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung; Andy Luis Marrero Vega, Dozent an der Fakultät für Psychologie; und Rachel Lambert Correoso vom Demografischen Institut.
SEMIac: Gibt es Ihrer Erfahrung nach Anzeichen für Gewalt gegen ältere Kubaner*innen? Kann man auch in Kuba von Altersdiskriminierung sprechen?
Teresa Orosa: Ja, die Gewalt gegen ältere Menschen manifestiert sich auf verschiedene Art und Weisen – auf der ganzen Welt und in Kuba ebenso. Und natürlich liegen auch verschiedene Facetten der Altersdiskriminierung vor. Dazu gehört die diskriminierende Art, anders zu denken, zu fühlen und zu handeln, wenn es um Personen einer anderen Generation geht. Selbstverständlich kann das auch Jüngere betreffen, viel öfter betrifft Altersdiskriminierung jedoch Senior*innen. Und zwar so stark, dass der Begriff der Altersdiskriminierung schon fast zum Synonym geworden ist für die Diskriminierung gegenüber Senior*innen.
Andy Luis Marrero Vega: Ja, ich glaube schon, dass es in Kuba Anzeichen für Gewalt gegen ältere Menschen gibt. Grund dafür ist unter anderem das Konzept oder die Art und Weise, wie Gewalt definiert wird. Wie auch das alltägliche Leben wird das immer komplexer. Heutzutage gibt es viel mehr Formen der Gewalt, die über körperliche Misshandlungen hinausreichen. Auch verschleierte Varianten psychischer Misshandlungen, verbale Ausschreitungen und sogar Vernachlässigung und ein fahrlässiger Umgang mit den Menschen gehören dazu. Man kennt neuerdings sogar die Vermögensmisshandlung. Der Begriff meint, jemandem den Zugang zu bestimmten Gütern zu entziehen. All diese Formen der Gewalt gibt es auch in Kuba, in einer demografisch vergleichsweise sehr alten Gesellschaft.
Im Bezug auf Altersdiskriminierung, so verweisen Nachforschungen meiner anfänglichen Studienzeit darauf, dass es das natürlich auch in Kuba gibt. Die Weltgesundheitsorganisation definiert den Begriff so: “Die Art und Weise, wie wir über unser eigenes Alter und das Alter anderer denken, fühlen und handeln, insbesondere in negativer und einschränkender Weise“.
Gehen wir von dieser theoretischen Definition aus, so finden wir Beweise der Altersdiskriminierung in Institutionen genauso wie in Gemeinschaften in Kuba. Es gibt eine interne, also subjektive Wahrnehmung dieser negativen sozialen Repräsentationen. Das Unvermögen und die Abhängigkeit etwa sind Charakteristika, die wir älteren Personen zuschreiben und damit zur Altersdiskriminierung beitragen. Das macht uns große Sorgen, weil sie häufig sogar verstärkt wird durch diejenigen, die sich der Erwachsenen- und Senior*innenbildung widmen.
Rachel Lambert Correoso: Ja, es gibt Gewalt gegen Ältere in Kuba. Das scheint zunächst unglaublich, angesichts des Ausmaßes der demografischen Alterung in unserem Land. Die Gewalt gegen Ältere manifestiert sich in Kuba vor allem in Altersdiskriminierung. Diese ist sehr verwurzelt und tritt nicht nur vonseiten junger Leute gegenüber Älteren auf, sondern auch durch Gleichaltrige der Generation 60+. Genau wie Frauen manchmal Geschlechterrollen und geschlechtsspezifische Stereotypen reproduzieren, so tun das auch Senior*innen mit den ihnen zugeschriebenen Stereotypen. Sicher, mit fortgeschrittenem Alter verlieren viele Menschen bestimmte Fähigkeiten, sodass man vieles nicht mehr machen kann. Dieser Verlust aber wird als Teil der Kultur und als Teil der Gesellschaft tendenziell übertrieben. Dadurch werden ältere Menschen wiederum in einer Vielzahl von Aktivitäten eingeschränkt, und das ist eine Form von Gewalt.
Wie manifestiert sich dieses Phänomen? Und von welchen positiven Erfahrungen im Kampf gegen die Gewalt gegen Ältere in Kuba könnt ihr berichten?
TO: Gewalt gegen Ältere kann viele Ausprägungen haben, von den offensichtlichsten wie der physischen und psychischen Gewalt bis hin zu subtilen oder unsichtbaren Varianten, bei denen Ältere aus Projekten, Wettbewerben usw. schlicht ausgeschlossen werden. Wenn ich wählen müsste zwischen all den Sachen, die Kuba gegen die Gewalt gegen Ältere getan hat, dann stechen für mich drei Strategien heraus. Alle drei haben dabei mit den beiden wichtigsten Dimensionen zu tun: Bildung und Schutz.
Die erste Strategie dieser drei ist die Erschaffung von Lehrstühlen an Universitäten, die sich der Erwachsenenbildung widmen, speziell für Senior*innen. Man kennt diese unter dem Namen Universidad de ls Tercera Edad (etwa: Universitäten des Lebensabends). Es reicht nämlich nicht aus, dass Rechte und Gesetze irgendwo stehen. Man muss sie auch kennen, anwenden und interpretieren können. Das ist eine der großen Aufgaben des Bildungsprogramms an unserem Lehrstuhl.
Die zweite Strategie knüpft an das kubanische Familiengesetzbuch an. Dabei geht es vor allem um die Thematik der Betreuung. Es erkennt verschiedene Betreuungsformen oder Familienkonstellationen an. Damit wird beispielsweise die Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern geschützt. Unter den verschiedensten Umständen wurde diese Zuneigung in Situationen der Gewalt gegen Ältere verletzt und missbraucht. Der Schutz der Großeltern fällt dann weg und sie haben keinen Zugang mehr zu ihren Enkel*innen. Außerdem verfügt das Familiengesetzbuch über ein ganzes Kapitel zum Thema Rechte und Pflichten von Senior*innen.
Die dritte der für mich wichtigsten Strategien hat wieder mit Bildung zu tun, aber diesmal vonseiten der Medien. Heraus stechen verschiedene TV- und Radioprogramme wie Fe de vida und Sigo aquí. Diese konkreten und beständigen Angebote haben produktiv zum Kampf gegen die Gewalt gegen Ältere beigetragen. Sie garantieren, dass jede*r seine oder ihre Rechte kennt. Das Radio oder Fernsehen erklärt auch, wie man sich schützen kann. Mit am wichtigsten ist, dass sie Senior*innen als ein Rechtssubjekt ansehen, als einen Bürger oder eine Bürgerin – im Gegensatz zu rückschrittlichen Paradigmen der “armen Opas” oder “bemitleidenswerten Senior*innen”.
AMV: Naja, diese Phänomene des Missbrauchs und der Altersdiskriminierung – was im Übrigen nicht genau dasselbe ist, obwohl Missbrauch Teil des Spektrums der Altersdiskriminierung ist – manifestieren sich sowohl bewusst als auch unbewusst. Darum ist Altersdiskriminierung ein so komplexes Feld. Missbrauch ist nicht nur physische Gewalt, auch Überbeschützen und Bevormunden sind Arten, jemanden zu diskriminieren und zu missbrauchen.
Wenn wir bedenken, wie viele Facetten des Missbrauchs es gibt, dann gibt es auch verschiedene Begriffe: physischen, wirtschaftlichen, psychischen Missbrauch, Fahrlässigkeit, Vernachlässigung, und so weiter. Altersdiskriminierung manifestiert sich unterdessen vor allem auf drei Dimensionen: institutionell auf der Makroebene; auf interpersoneller Ebene, also innerhalb von Gruppen und Gemeinschaften; und zu guter Letzt auf der Mikroebene, also individuell zwischen einzelnen Personen. Letzteres hat mit persönlichen Interaktionen zu tun und damit, wie Menschen Stereotype und diskriminierende Praktiken als Teil ihres eigenen Diskurses und ihres eigenen Handelns übernehmen.
Der Kampf gegen diese Plage orientiert sich an drei fundamentalen Aktionen. Die erste ist generell die Formulierung und Einführung von Gesetzen. Dafür ist es meiner Meinung nach notwendig, dass die Wissenschaft mehr Daten vorlegt, mit denen die Regierung an Gesetzesentwürfen arbeiten kann. Die zweite Strategie im erfolgreichen Kampf gegen Altersdiskriminierung ist die Bildung oder die Intervention im pädagogischen Kontext. Das hat auch damit zu tun, was wir als Dozenten und Dozentinnen machen und stützt sich auf den technischen Beirat des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung.
Das dritte Element wäre dann der Kontakt zwischen der Generation der Älteren und anderen Altersgruppen. Das ist so wichtig, weil viele Konflikte darin wurzeln, dass es große Unterschiede in den Werten und Kommunikationsmustern der Generationen gibt – also symbolische Fragen, die sich hinter den Vorstellungen jeder Generation verbergen. Der generationsübergreifende Austausch vermindert also diese Unruhe, diese Angst, dieses Grauen und diese falschen Vorstellungen.
RLC: Es gibt eine große Anzahl an Stereotypen und diskriminierenden Aktionen gegenüber Senior*innen, die zum Spektrum der Altersdiskriminierung gehören. Dazu gehört auch, das Älterwerden aktiv zu leugnen oder abzustreiten, dass man in der physischen Aktivität und im Sport immer eingeschränkter wird – bis hin zum Tabu der sexuellen Aktivität. All das sind Facetten der Gewalt gegen Ältere. Mit eingeschränkten Fähigkeiten gehen oftmals auch eingeschränkte Autonomie einher, man wird abhängiger und es geht Individualität verloren. Beispielsweise, wenn es heißt: “Nein, Opa, deine Meinung interessiert nicht, du bist ja schon alt” oder “Nein, Mama, kauf dir das nicht, du bist doch schon alt. Das ist nichts für dich. Du kannst so etwas nicht mehr machen.” Das sind für mich ganz klare und weit verbreitete Ausdrücke, die Teil der kubanischen Gesellschaft sind, und die Gewalt gegen Senior*innen beweisen.
Eine interessante Erfahrung hat die Landesweite Tagung der Psychologiestudierenden gemacht. Teil des Kongresses ist eine große Messe, bei der Workshops angeboten werden mit Personen aus unterschiedlichen Generationen, die gemeinsam auf die Besonderheiten der einzelnen Gruppen eingehen. Eine andere phänomenale Erfahrung ist für mich der Lehrstuhl für Erwachsenenbildung mit all seinen Zweigstellen in ganz Kuba. In jeder Gemeinde haben sie eine Niederlassung mit einem Hörsaal. Dort wird unterrichtet und die Senior*innen werden wieder zu Studierenden. Die Lehrpersonen sind ebenfalls Ältere. Und solche Initiativen werden immer mehr.
Außerdem ist es essentiell, zu erkennen, wie wichtig die Rolle der Senior*innen im neuen Familiengesetzbuch Kubas ist. Dort wurde ein großer sozialer Fortschritt schriftlich festgehalten. Dieser Fortschritt ist Teil unserer Normen und Gesetze, die die Gesellschaft lenken. Der rechtliche Rahmen wird dabei helfen, die Gewalt einzudämmen.
Eine weitere, positive Erfahrung im Kampf gegen Altersdiskriminierung, die ich herausstellen möchte, ist die Política de Atención a la Dinámica Demográfica [etwa: Politik der Aufmerksamkeit für die demografische Dynamik. Dabei handelt es sich um eine Strategie der kubanischen Regierung, der alternden Gesellschaft stetig entgegenzuwirken. Verschiedene Aktionen betreffen dabei alle Sektoren der Regierung. So gibt es zum Beispiel Pläne, wie das Gesundheitssystem an die Bedürfnisse von Senior*innen angepasst werden kann.], die unter anderem Senior*innen besonderen Schutz und Sorgfalt verspricht. Und wenn ich von Schutz und Sorgfalt spreche, dann spreche ich nicht von einem wohltätigen, mitunter bemitleidenden, Ansatz. Ich meine einen Schutz und eine besondere Sorgfalt auf Grundlage des Prinzips des aktiven Älterwerdens. Denn Senior*innen sollen in ihren Rechten respektiert werden, einschließlich ihrer sexuellen und reproduktiven Rechte. Senior*innen brauchen eine Lobby als wachsender Personalstand, vorausgesetzt sie wollen weiterarbeiten. Und jegliche Gewalt gegen sie muss im Keim erstickt werden.
Welche Herausforderungen gibt es im Hinblick auf die Zukunft?
TO: Als Gesellschaft stehen wir vor vielen Herausforderungen. Ich denke, wir müssen an einer neuen, gerontologischen Kultur arbeiten – das heißt, an einer Kultur des Älterwerdens. Diese muss sich auf das Konzept stützen, dass Ältere ebenso Rechtssubjekte und Bürger*innen sind, und nicht nur Großeltern. Ich weiß, dass da eine Älterwerden-Arbeitsgruppe der Política de Atención a la Dinámica Demográfica dran ist. Außerdem stehen wir vor einer weiteren großen Herausforderung: Die grundsätzliche Freundlichkeit mit Senior*innen. Es reicht nicht, wenn sich die Gesellschaft als senior*innenfreundlich ausgibt, wir müssen diese Idee auch umsetzen, und zwar von unten herauf. Ich glaube, es wird da noch immer ein bisschen improvisiert. Projekte werden einfach gestartet. Die Personen, die wie wir heute mit Älteren zusammenarbeiten, sind alle dazu berufen, die Eigenschaften jener Generation zu studieren. Es hat ja in Kuba nicht nur einen demografischen Wandel gegeben, sondern auch einen Generationenwechsel. Deshalb müssen wir stets in Erfahrung bringen, welche Bedürfnisse diese neue älteste Generation hat. Das muss man ein*e Senior*in fragen. Man muss von der Diagnose einer älteren Person ausgehen. Eine letzte Herausforderung ist die Möglichkeit, einen Verband kubanischer Senior*innen zu gründen. Dieser könnte zum Wohl der Älteren beitragen und dabei helfen, die Gewalt gegen Ältere einzudämmen.
AMV: In einer so stark gealterten Gesellschaft wie der kubanischen müssen wir eine neue Generationskultur fördern. Ältere sollten nicht mehr in ihrer Abhängigkeit repräsentiert werden, oder durch ihre Verletzlichkeit definiert werden, denn genau das ist eine sehr diskriminierende Position. Von akademischer und wissenschaftlicher Seite fehlt es noch ein bisschen an Hilfe, weil sie oft auf der Ebene eines Diskurses verbleiben. Stattdessen sollte sie zu Lösungen beitragen, beispielsweise mit Daten und konkreten Resultaten von Untersuchungen, die den Entscheidungsprozess vorantreiben.
RLC: Bezüglich der Herausforderungen ist für mich die klarste die schnell alternde Bevölkerung Kubas. Schon jetzt sind wir ein demografisch sehr altes Land. Laut verschiedener Bevölkerungsindizes gelten 12 Prozent der Bevölkerung weltweit als alt. In Kuba sind wir bei 20 Prozent. Diese Zahl wird laut statistischer Projektionen in den nächsten 10 oder 15 Jahren stark ansteigen. Deshalb ist diese die für mich klarste Herausforderung. Wenn das Leben und die Gesellschaft zeigen, dass mit wachsendem Alter die altersspezifischen Stereotypen verstärkt werden, dann stellt sich die Frage, wie man diesem Teufelskreis entkommen kann. Und wie man in einer immer älter werdenden Bevölkerung an Lösungen der Altersdiskriminierung arbeiten kann.
Es ist also essentiell, die verschiedenen Facetten der Altersdiskriminierung einzudämmen. Vor allem, weil sie eine ganze Generation an Arbeitskräften betreffen – Humankapital, das noch immer arbeitet, obwohl sie schon im Rentenalter sind. Sie gehen in Rente, werden aber wieder eingestellt und sind noch immer eine treibende (Arbeits-)kraft des Landes.
Übersetzung: Patricia Haensel
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