Die wichtigste Wahl in unserem Leben

(Santiago, 31. August 2022, servindi).- Zum ersten Mal in der Geschichte Chiles haben wir die Möglichkeit, eine demokratisch und paritätisch erarbeitete Verfassung zu wählen. Das Ergebnis wird enorme Konsequenzen für nachfolgende Generationen haben. Am 4. September steht die Volksabstimmung an, die über eine neue Verfassung entscheiden wird. Wir sind alle voller Hoffnung, dass dieser Tag ein Historischer wird und die Mehrheit für die neue Verfassung stimmt. Unmöglich, in den letzten Tagen vor der Wahl nicht nervös, aufgeregt und hoffnungsfroh der wohl wichtigsten Wahl unseres Lebens in Chile entgegenzufiebern. Jahrhundertelang hat das Land unter der von Diego Portales Palazuelos geschaffenen autoritären, präsidialen bestehenden Verfassung gelebt, die ohne Berücksichtigung der breiten Mehrheit konstruiert wurde. Jene Verfassung war niemals das Resultat eines demokratischen Prozesses, so wie wir ihn momentan erleben.

Es geht um historische und aktuelle Kämpfe für ein gerechteres Land

Mit der bevorstehenden Volksabstimmung steht nichts Geringeres auf dem Spiel als die Frage, welche Art von Demokratie in den nächsten Jahrzehnten unser Land regiert. Wir haben die Möglichkeit, Protagonist*innen eines historischen Moments zu sein. Dieser wird nicht nur entscheidend für unser heutiges Volk sein, sondern auch für diejenigen, die noch nicht geboren sind und auch für diejenigen, die heute nicht mehr bei uns sind. Diese Wahl hat eine immense Bedeutung, denn hier geht es um all die Kämpfe für ein gerechteres Land, für Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Würde und den gegenseitigen Respekt, die seit der Ausrufung der Republik 1810 bis heute ausgetragen wurden. Ich beziehe mich auf alle Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Indigene, Kämpfe von Feministinnen und LGBTQI+s, die sich im Laufe unserer Geschichte für ein besseres Leben und gegen Ausgrenzung eingesetzt haben. Viele haben ihr Leben im Kampf gegen einen brutal herrschenden, antidemokratischen Staat verloren. Die Besetzung des Wallmapu (1860-1883), die Massaker von Iquique (1907), Curanilahue (1916), Ranquil (1934), Puerto Montt (1934), El Salvador (1966), die Militärdiktatur (1973-1989) und die Missachtung der Menschenrechte während des Aufstands seit Oktober 2019 zeigen uns, dass der chilenische Staat seit je her mit der Logik des Kampfes „den inneren Feind“ arbeitet und die eigene Bevölkerung bekämpft. Trotz der Gewalt des chilenischen Staats hören die sozialen Bewegungen und die verschiedenen Organisationen der bürgerlichen Gesellschaft nicht auf, sich zu mobilisieren. Mit ihrer Hartnäckigkeit haben sie den Prozess vorangetrieben, den wir aktuell durchleben. Sie haben im Oktober 2019 den Aufstand entfacht, der einen Wendepunkt in unserer Geschichte bedeutet.

Das historische Gedächtnis unseres Landes nicht ausblenden

Wenn wir also über die neue Verfassung abstimmen, dürfen wir das historische Gedächtnis unseres Landes nicht ausblenden. Wir stimmen für die neue Verfassung nicht nur wegen der Verfolgten, Gefolterten und Ermordeten, sondern aller Demonstrationen, Kundgebungen und Revolten der Vergangenheit, die die Bevölkerung in Bewegung gebracht und den Aufstand im Oktober 2019 überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich möchte hier nur einige von vielen historischen Protesten erwähnen: den Fleischaufstand (1905), den großen Streik von „Tarapacá“ (1907), die Prozesse der Aufständischen (1920), der Streik der Mieter*innen (1925), die die Chaucha-Revolution (1949), den ersten Protest von LGBTQI+s (1973), den Protestmarsch der Frauen gegen die Diktatur (1986) sowie den Triumph der NO-Kampagne (1988). In den letzten 30 Jahre, nach der Rückkehr zur Demokratie, hatten wir die Protestbewegungen „El Mochilazo“ (2001), die Revolution der Pinguine (2006), den chilenische Studierendenaufruf „No al lucro“ (2011), „No a Hidroaysen“ (2012), den ersten Marsch der Verteidigung und Rückgewinnung des Wassers“ (2013), den Rentenprotest „No más AFP“ (2016), den „Mayo chilote“ (2016), den „Mayo feminista“ (2018), und im Oktober 2019 die Proteste der Studierenden von Santiago gegen die Preiserhöhung im Nahverkehr. Teil des Prozesses sind auch all‘ jene, die stumm gemacht und durch strukturelle Gewalt geringgeschätzt, verletzt und gedemütigt wurden, wie es Kindern und Jugendlichen, Alten, Menschen mit Behinderung, anders Lebenden, Tieren und der Natur, von der wir ein Teil sind, passiert.

Hoffnung versus Angst

Vor diesem Hintergrund tragen wir eine enorme Verantwortung, gerade weil wir zum ersten Mal in der Geschichte Chiles die Möglichkeit haben, eine demokratisch und paritätisch ausgearbeitete Verfassung zu wählen. Denn was sich an diesem Tag entscheidet, wird enorme Konsequenzen für die nachfolgenden Generationen haben. Aus diesem Grund wird in der Zukunft dieser historische Moment, in dem wir uns als Land aktuell befinden, als der Moment festgehalten werden, in dem wir selbst als Chilen*innen unser Land und unsere Zukunft mit Hoffnung und Optimismus bestimmt haben ‑ wenn der Apruebo die Mehrheit erzielt. Sollte das jedoch nicht der Fall sein, so wird der Tag als jener in die Geschichte eingehen, an dem die Chilen*innen ihrer Angst vor der Demokratie gefolgt sind und unser Schicksal erneut in die Hände der führenden Eliten gegeben haben, die uns einen Staat aufgezwungen haben, der auf ihre eigenen Bedürfnisse zugeschnitten war. Die historische Möglichkeit, zum ersten Mal eine Verfassung zu bekommen, die die Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigt, wäre damit verspielt.

Übersetzung: Amelie Stettner

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