(Caracas, 4. August 2024, Colombia Informa).- Die Organisation Unión Comunera ist ein landesweiter Verband, dem 90 Comunas und einige soziale Bewegungen angehören. Sie verteidigen die Bolivarische Revolution und vertreten den kommunalen Weg zum Sozialismus. Colombia Informa war in Venezuela und sprach mit Alexander Gil von der Unión Comunera über die Situation vor und nach den Wahlen.
CI: Wie sehen Sie als Unión Comunera die aktuelle Situation nach den Wahlen?
Alexander Gil: Als Unión Comunera sind wir nicht überrascht durch dieses Szenario. Wir wussten, dass es zu einer Missachtung der Wahlergebnisse kommen würde, in der Geschichte der Bolivarischen Revolution hat es das immer wieder gegeben, mit verschiedenen Taktiken und Strategien. Sie finden immer einen Weg. Im Moment ist es ein Teil der Opposition, der die Ergebnisse ignoriert. Dank eines Dialogprozesses, der von der Nationalversammlung und verschiedenen Instanzen eingeleitet wurde, gibt es andere Oppositionssektoren, die die Ergebnisse anerkennen, die Präsident Nicolás Maduro anerkennen. Wir sehen dies auch als einen Versuch der Opposition, das Land neu zu polarisieren, das Thema des institutionellen Zusammenbruchs als Folge des Betrugs aufzugreifen, damit hatten wir gerechnet.
Der Chavismo hat schon vor dem Wahlkampf versucht, die Unzufriedenheit des Volkes aufzugreifen, sich Gehör zu verschaffen und Veränderungen herbeizuführen, denn die bolivarische Revolution ist kein monolithischer oder statischer Prozess. Präsident Nicolás Maduro sagte: „Wenn wir die Wahlen gewinnen, werden wir danach einen großen nationalen Dialog beginnen und notwendige interne Veränderungen herbeiführen. Wir haben den festen Vorsatz, unseren Prozess weiter zu vertiefen.“ Wir von der Unión Comunera sagen: Der einzig mögliche Weg zum Sozialismus ist der chavistische Weg der Comuna. Aber derzeit steht auch der Chavismo stark unter Beschuss. Hinter all diesen Aufrufen zu Demonstrationen und Vandalismus im Zusammenhang mit dem so genannten Wahlbetrug steht immer auch ein Angriff auf die Chavistas. Schon zum Zeitpunkt der Wahl herrschte eine ziemlich angespannte Stimmung, als sei nun auch der Moment gekommen, um mit dem Chavismo abzurechnen. Viele Menschen wurden auf der Straße verprügelt, es gab zahlreiche Mordversuche; Nationalgardisten wurden getötet. Wir sehen das auch als einen Versuch, die Bolivarische Revolution von der Bildfläche zu tilgen. Da sie es nicht mit Stimmen oder gewaltsamen Aktionen schaffen, versuchen sie es so zu drehen, dass der Chavismo an seinen eigenen Errungenschaften zweifelt. Sogar Statuen von Chávez und ein Coromoto-Standbild wurden angegriffen, letzterer hat ebenfalls eine große Bedeutung für dieses Land. Sie versuchen, einfach alle Symbole der Revolution zu beseitigen. Es gibt einen sehr starken Hassdiskurs und Attentate gegen den Chavismo, nicht nur auf der Straße; auch in den sozialen Netzwerken wimmelt es von Drohungen, sogar Fotos mit den Adressen und Nummern der Aktivisten wurden veröffentlicht, das ist ziemlich heftig. Mit anderen Worten, es geht auch darum, den Chavismo zu demontieren.
Was wir also tun müssen, ist, die Grundideen der Bolivarischen Revolution retten: Bolívar, Chávez, die partizipative Demokratie. Und obwohl wir darauf eingestellt waren, wird die Situation ziemlich komplex: Jetzt müssen wir uns neu artikulieren und gruppieren, denn es waren Kinder aus unseren Vierteln, die zum Vandalismus aufgerufen haben, die für ihre Teilnahme bezahlt wurden, Nichtwähler, die keine Ahnung hatten, was sie da taten. Wir sehen, dass die Opposition weiterhin unsere Jugendlichen benutzt. Die Randalierer sind keine Leute aus der Oberschicht und oberen Mittelschicht. Sie benutzen das „einfache Volk“, um sich dahinter zu verstecken. Wir müssen uns also auf die Jugendpolitik konzentrieren, uns diesen Sektoren annähern und den Kontakt zu den Jugendlichen wiederherstellen. Es gibt schon wichtige Programme, aber wir müssen auch an den jungen Menschen dranbleiben, damit so etwas nicht passiert. Bei diesen Vandalenakten haben sie die Bürger gezielt zusammengetrommelt. Die Gruppen der Randalierer bestanden immer nur aus 15 oder 20 Personen, meist junge Leute, die keiner politischen Partei angehörten. Die Situation ist inzwischen unter Kontrolle. Die Regierung von Präsident Nicolás Maduro hat gut reagiert. Es wurden institutionelle Mechanismen aktiviert, um aus dieser Krise herauszukommen, die die Opposition heraufbeschwören wollte. Es gab sogar Cyberangriffe auf den Nationalen Wahlrat. Aber unser Wahlsystem ist eins der sichersten der Welt, es ermöglicht den Bürgern, ihre Stimmabgabe zu überprüfen: Diese erfolgt digital, mit einer Quittung, die mit den Wahlunterlagen verknüpft ist. Wir haben also diese drei Mechanismen, die jederzeit übereinstimmen müssen und die diesen Prozess schützen.
Aktuell wird versucht, das Land radikal umzupolen, den Hass zu schüren, um den Prozess der bolivarischen Revolution zu stoppen. Die Errungenschaften der Sozialpolitik werden ignoriert. Kaum gibt es mal keinen Zugang zu bestimmten Dingen, ist gleich von einem riesigen Ernährungsproblem die Rede. Das Thema Gesundheitsversorgung ist definitiv komplex, die Arzneimittelversorgung und all das. Aber was unsere Gegner immer verschweigen: Nachdem sie 2015 die Parlamentswahlen gewonnen hatten, wurde eine Reihe von einseitigen Zwangsmaßnahmen und Sanktionen gegen Venezuela implementiert, und sie unternahmen nichts dagegen. Das Gesundheitssystem wurde geschädigt und das wichtigste Unternehmen, das Devisen produziert und soziale Investitionen ermöglicht, nämlich die Erdölgesellschaft PDVSA, mit Sanktionen belegt. Ständig wird unser Land blockiert, laufend werden Sanktionen gegen uns verhängt, immer wieder gibt es Gewalt und Putschversuche, wie 2014 und 2017. Die Opposition hat kein Interesse, sich an einem Wahlprozess zu beteiligen, und da sie in diesem Rahmen nicht antreten kann, versucht sie, uns mit gewaltsamen Aktionen zu schaden.
CI: Wie wird Demokratie derzeit innerhalb der Bolivarischen Revolution verstanden, und gibt es diesen Autoritarismus, wie oft behauptet wird, auch von linken Kräften in anderen Ländern?
AGl: Wir haben ein anderes Demokratiemodell entwickelt, das über die bürgerlich-liberale Demokratie hinausgeht, bei der die Wahlen die einzige Möglichkeit der Beteiligung des Volkes darstellen. Bei uns gibt es zusätzlich zu den Wahlen noch weitere Mechanismen, die von der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela unterstützt werden, zum Beispiel die Bürgerversammlung, deren Entscheidungen für das ganze Land verbindlich sind. Sie ist ein sehr wichtiges Instrument für die Gesetze der Volksmacht, die Gemeinderäte und die Kommunen; Simón Rodríguez hat [Ende des 18. Jahrhunderts] viel über die toparquia, die Macht im Territorium, gesprochen; sie ist der wesentliche Teil der partizipativen Demokratie. Bei dieser neuen Form der Demokratie kann das Volk wirklich Macht ausüben, es gibt kein autoritäres Handeln. Zum Beispiel können weder die Partei noch die Regierung die Beschlüsse des Gemeinderats oder der Kommune untergraben, die in der Bürgerversammlung gefasst wurden. Der Regierungsplan wird mit der Bevölkerung, mit den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, mit den Gemeinderäten, mit den Kommunen erarbeitet. Es gibt auch Volksabstimmungen, um wichtige Entscheidungen zu treffen, wie z.B. vor einiger Zeit in der Esequibo-Frage.
Es ist also komplex. Ich denke, dass viele Sektoren der Linken sehr stark von den imperialistischen Kampagnen und dem ganzen Propagandanetz beeinflusst sind und nicht verstehen, dass in Venezuela eine partizipatorische Demokratie an der Basis aufgebaut wird, das heißt, eine, die über die üblichen Formen der Demokratie hinausgeht.
CI: Was sind die Errungenschaften der Bolivarischen Revolution in Bezug auf die sogenannte „soziale Schuld“? Was ist das mit den Misiones?
AG: im Jahr 1989 gab es hier den sogenannten Caracazo: eine spontane Reaktion des Volkes auf neoliberale Maßnahmen. Zu der Zeit gab es enorme soziale Defizite, der größte Teil der Bevölkerung waren Analphabeten. Wir haben eine große Alphabetisierungs-Kampagne in Gang gesetzt. Die ärmsten Bevölkerungsschichten, die die überwiegende Mehrheit des Landes ausmachten, hatten keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu Medikamenten; im Zuge der Misiones haben wir die Aktion „barrio adentro“ gestartet: Wir holten kubanische Ärztinnen und Ärzte aus Kuba, um die Defizite im Gesundheitssektor zu bekämpfen, und bildeten zugleich venezolanische Ärzte aus. Die Misiones sind ein strukturelles Paket, das Thema Bildung gehörte auch dazu, ebenso die Wohnungsfrage und die Obdachlosigkeit; alles das wurde im Zuge der Revolution angegangen. Als die bolivarische Revolution kam, lebten viele Menschen auf der Straße, und dank der Revolution konnten sie wieder in die Gesellschaft integriert werden. Auch die öffentlichen Dienstleistungen wurden umgekrempelt. Die Misiones starteten in den Jahren 2004-2005, es war ein umfassendes Maßnamenpaket zur Beseitigung der großen Probleme, die in der Gesellschaft existierten und als „soziale Schuld“ bezeichnet wurden.
CI: Wie wird Demokratie derzeit innerhalb der Bolivarischen Revolution verstanden? Gibt es, wie viele sagen, einen Autoritarismus linker Sektoren?
AG: Die Frage der kommunalen Macht und der Macht des Volkes ist im Grunde das Gleiche. In Venezuela haben wir umfassende Erfahrungen mit der Volksmacht gemacht. Bei uns gab es eine wichtige Tradition sozialer Bewegungen wie Genossenschaftsbewegungen, sogar Guerillabewegungen, die in bestimmten Gebieten den Weg für eine organische Entwicklung eröffneten, oder die Bauernbewegungen, die in historischen Kämpfen verwurzelt sind und den Grundstein für die Organisierung des Volkes gelegt haben. Als der Prozess der Bolivarischen Revolution begann, gab es eine riesige soziale Schuld des Staates, der bis dahin nur für die Repression zuständig war, die soziale Schuld war ihm schnuppe. Die Revolution war ein Versuch, alle diese Organisationsbereiche mit der Macht des Volkes neu zu gestalten. So entstanden die ersten themenbezogenen Runden Tische; kleine Versammlungen, in denen konkrete Fragen und Probleme im Zusammenhang mit Themen wie Wasser, Elektrizität und Kommunikation und vor allem die Landfrage diskutiert wurden. Der Diskussionsprozess unter den Menschen führte zu verbindlichen Entscheidungen, die schließlich andere organisatorische Prozesse nach sich zogen, darunter die zunehmende Bildung von Genossenschaften. Ebenso wurden auch identitäre Entwicklungen innerhalb der Gemeinschaften angestoßen und geschichtliche Hintergründe einbezogen. Die kommunalen Räte sind das Ergebnis und die Synthese all dieser Erfahrungen. Sie sind wie Ausschüsse organisiert und regeln das Leben in der Gemeinschaft, planen Problemlösungen und geben Raum für Diskussionen und Entscheidungen in der Gemeinschaft. 2006 wurde das erste Gesetz über die Gemeinderäte verabschiedet, das den Prozess der Volksorganisierung regelt und die Organisationsprozesse festlegt. Ohne dieses Gesetz wären wir nicht in der Lage gewesen, die Idee der Gemeinderäte so breit umzusetzen. Im Jahr 2010 gab es dann ein organisches Gesetz zu den Comunas, das sind Zusammenschlüsse von Gemeinden, in denen mit den Räten eine neue Organisationsstruktur entstand.
CI: Woraus bestehen die Comunas?
AG: Die Comuna ist in Venezuela heute eine weit verbreitete Organisationsform, die auch schon ihre Krisen durchlebt hat, verursacht durch Sanktionen, Sabotage und Putschversuche. Aber letztlich haben sie geholfen, den Prozess der bolivarischen Revolution am Leben zu halten. Die Comunas sind sowas wie der Geist der Revolution, der Raum, in dem der Sozialismus geboren wird. Und sie sind ein territorialer Raum, in dem sich die Gemeinschaft mit ihren organisatorischen Elementen entwickeln und vertiefen kann.
Wir von der Union Comunera sind wie die Akteure der Bolivarischen Revolution der Meinung, dass der einzige Weg zum Übergang zum Sozialismus der Weg der Comunas ist, der Weg der Volksmacht. Also haben wir uns darauf konzentriert, das Comuna-Netz auszuweiten. Derzeit gibt es mehr als 4.000 Comunas und mehr als 50.000 kommunale Räte. Die sozialen Bewegungen, Genossenschaften und all diese organisatorischen Dynamiken haben hier einen konkreten territorialen Raum, um zusammenzukommen.
In den Comunas gibt es auch Krisenmomente, denn wenn der institutionelle Rahmen in Venezuela in Mitleidenschaft gezogen wird, wirkt sich das auch auf die Finanzierung dieser Volksorganisationen und die Finanzierung von Projekten im sozialen Bereich aus. Insofern bleibt es ein Prozess des Widerstands, einige Comunas können sich nicht halten, dafür entstehen neue; und dieser Prozess wird sich über Jahre hinziehen. Aber uns war immer klar, dass wir die Comunas brauchten, um in Krisenzeiten widerstandsfähig zu sein und gemeinsam gegen Imperialismus, Bourgeoisie und Marionetteninstitutionen zu kämpfen, die hinter den Sanktionen, der Sabotage und den Putschversuchen stehen.
CI: Wie ist die Unión Comunera entstanden?
AG: Als Zusammenschluss der einzelnen Comunas. Es ist eine nationale Struktur, der mehr als 90 Comunas und einige soziale Initiativen angehören. Ihr Grundprinzip ist der chavistische Weg zum Sozialismus, der auf der kommunalen Idee aufbaut. Wir haben eine nationale Führung, sind in verschiedenen Regionen des Landes in verschiedenen Arbeitskommissionen organisiert und haben uns ideologisch mit der kommunalen Idee auseinandergesetzt. Die Comuna ist ein selbstverwalteter Raum, durch den von unten nach oben ein neuer Staat, der kommunale Staat, entsteht, in dem die Fallstricke des gegenwärtigen bürgerlichen Staates keinen Platz haben. Wir glauben, dass dies der beste Weg für den Übergang zum Sozialismus ist. Einer der Slogans unseres Verbands lautet: Unabhängigkeit, Comuna und Sozialismus.
Übersetzung: Deborah Schmiedel
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