Die Krise eskaliert

(Lima, 10./11. Januar 2023, desinformémonos/poonal).- In Peru werden noch immer die Toten gezählt. Zuerst waren es neun, dann zwölf, dann vierzehn und schließlich 17 Zivilist*innen und ein Polizist, wie die Ombudsstelle Defensoría del Pueblo mitteilte. Es passierte in Juliaca im südperuanischen Departement Puno, an der Grenze zu Bolivien, während des Streiks. Der landesweite unbefristete Generalstreik, der am 4. Januar begann, hat seinen Schwerpunkt im Süden des Landes. In der Region mit einer mehrheitlich aymara-sprachigen Bevölkerung sind besonders viele Menschen auf der Straße. Bereits am Freitag, 6. Januar, war es zu schweren Zwischenfällen bei einem weiteren Versuch der Besetzung des Flughafens gekommen.

Die Bilder und Zeugenaussagen offenbarten eine erneute hemmungslose Repression. Einer der Getöteten, Marco Antonio Samillan, war 31 Jahre alt und Sanitäter. Er wurde bei dem Versuch erschossen, Verletzten zu helfen. Krankenschwestern des Gesundheitszentrums Mariano Melgar beschuldigten die Sicherheitskräfte, „Schrotkugeln und scharfe Munition auf das Gesundheitszentrum“ abgefeuert zu haben, während sie die Verwundeten nach der Aktion der Polizei und der Armee versorgten. „Was wollen sie noch? Sie haben schon so viele Menschen getötet, was will die Präsidentin noch?“, fragte eine von ihnen in eine der wenigen Fernsehkameras, die vor Ort waren.

Mehr Öl ins Feuer gegossen

„Wir fordern die Ordnungskräfte auf, mit rechtmäßigen, notwendigen und verhältnismäßigen Maßnahmen zu reagieren. Und wir fordern die Staatsanwaltschaft auf, eine sofortige Untersuchung zu veranlassen“, erklärte die Ombudsstelle – eine Forderung mitten in einer Krise, die in einem Monat der Proteste bereits 47 Menschenleben gekostet hat, in einem Land, das sich im Ausnahmezustand befindet und militarisiert ist. Die Ereignisse in Juliaca lösten mehrere Protestaktionen im ganzen Land aus, etwa in Cusco und Lima, wo es in den letzten Tagen zu zahlreichen Festnahmen kam. Allein am Freitagabend (6.1.) gab es 200 Verhaftungen: „Massive und willkürliche Verhaftungen zielen darauf ab, Angst einzuflößen und von der Ausübung des Rechts auf Protest abzuschrecken“, erklärte dazu die Nationale Menschenrechtskoordination CNDDHH.

„Proteste wogegen? Man versteht nicht, was sie fordern (…), ihre Forderungen sind nur ein Vorwand, um weiteres Chaos zu stiften“, erklärte die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, als sie von einem der ersten Todesfälle in Juliaca erfuhr. Sie äußerte sich während der Sitzung des so genannten Nationalen Übereinkommens, an der neben anderen politischen Akteuren auch der Premierminister Alberto Otárola, der Präsident des Kongresses José Williams und die meisten Gouverneur*innen der Regionen teilnahmen. Die Sitzung wurde unterbrochen, als die ersten Nachrichten über die Toten eintrafen. Premierminister Alberto Otárola gab keine einzige kritische Äußerung von sich.

Weder Selbstkritik noch Versöhnungsbereitschaft

Otárola wandte sich in einer Fernsehbotschaft an die peruanische Bevölkerung. Darin bezeichnete er die Geschehnisse in Juliaca als einen „organisierten, systematischen Angriff von Vandalismus und gewalttätigen Organisationen auf den Rechtsstaat und die Institutionen“. Der Premierminister, der im vergangenen Dezember, als bei den Protesten 28 Menschen starben, Verteidigungsminister von Boluarte war, übte weder Selbstkritik noch rief er zum Dialog oder zur Versöhnung auf. Alles, was passiert sei, sei „die direkte Verantwortung derjenigen, die einen Staatsstreich durchführen wollen“. Sie seien, so Otárola, von Pedro Castillo geleitet worden, der für 18 Monaten in Untersuchungshaft sitzt.

Die Rede des Premierministers goss noch mehr Öl ins Feuer. Er erwog weder eine Untersuchung des Vorgehens der Sicherheitskräfte nach der Ermordung von 47 Menschen, noch ging er auf die Forderungen der Demonstrierenden ein. Otárola bezeichnete die nach offiziellen Berichten 9.000 Menschen, die in Juliaca demonstrierten, als „Horden von Kriminellen“, die angeblich mit „fremden, ausländischen und dunklen Geldern aus dem Drogenhandel“ finanziert würden.

Die Erwähnung von „ausländischen Geldern“ passte zur Kampagne gegen Boliviens ehemaligen Präsidenten Evo Morales, die Tage zuvor von rechten Kongressabgeordneten, konservativen Medien wie El Comercio und der Regierung selbst begonnen wurde. Daraufhin untersagte die Regierung dem bolivianischen Staatschef sowie acht weiteren Bürger*innen des Nachbarlandes die Einreise nach Peru. Morales wurde beschuldigt, „die innere Ordnung zu gefährden“ und „sehr aktiv an der Schaffung einer Krisensituation“ mitgewirkt zu haben. Es ist nicht das erste Mal, dass die peruanische Rechte Morales beschuldigt: Bereits 2021 hatte ihn der Kongressausschuss für auswärtige Beziehungen zur „persona non grata“ erklärt.

Die Vertrauensfrage

Zwei Tage nach dem Tod von 18 Menschen in Juliaca stellte die Regierung Boluarte im Kongress die Vertrauensfrage. Um diese zu überstehen, benötigte sie eine einfache Mehrheit von 66 Stimmen. Die rechten Parteien im Kongress wie Fuerza Popular, APP, Avanza País und Renovación Popular sicherten der Regierung eine Mehrheit und sprachen ihr das Vertrauen aus. Premierminister Otárola versprach in seiner Rede Millionen Investitionen und verschiedene Sozialprogramme für die Bevölkerung (Stromhilfe, Dürrehilfe, Familienwohngeld u.a.). Damit ist die Regierung Boluarte formell eingesetzt, einen Monat und drei Tage nach dem Amtsantritt der Präsidentin. Unterdessen gehen die Proteste in den Andenregionen weiter.

Die Vertrauensfrage war und ist ein zentraler Faktor für die chronischen Krise in Peru. Denn mit ihr hat der Kongress eine Veto-Macht über die verschiedenen Regierungen. Diese übte er gegen den ehemaligen Präsidenten Martín Vizcarra aus, der im November 2020 seines Amtes enthoben wurde, ebenso gegen Castillo während seiner nur ein Jahr und fünf Monate dauernden Regierungszeit. Für jedes seiner vier Kabinette musste Castillo die Zustimmung des Kongress einholen. Als Gegengewicht zu dieser Macht des von Fujimori-Anhänger*innen und der extremen Rechten dominierten Kongresses hatte die Regierung bis 2021 das Recht, im Falle der Ablehnung zweier Kabinette den Kongress aufzulösen. Diese Möglichkeit konnte das Parlament jedoch einschränken, um seine eigene Macht auszubauen.

Es war damit gerechnet worden, dass die Regierung Boluarte die Vertrauensfrage gewinnt. Denn bisher waren sich Kongressmehrheit und Boluarte bei unterschiedlichen Themen einig. Letzteres wird von einigen Beobachter*innen als Ausdruck eines politischen Bündnisses gedeutet, das aus der Stunde Null geboren wurde: Die Präsidentin ist das Produkt der Amtsenthebung Castillos durch den Kongresses, die im dritten Anlauf erfolgreich war. Für einige war sie Teil dieses Plans zur Amtsenthebung, der nach Castillos Versuch, den Kongress aufzulösen, konkret wurde.

Eine Regierungskrise im Fall einer verlorenen Vertrauensfrage hätte auch vorgezogene Wahlen bedeutet, wie die Menschenrechtsaktivistin und ehemalige Kongressabgeordnete Rocío Silva Santiesteban erklärte.

Eine uferlose Krise

Unterdessen eskaliert die Krise weiter. Die jüngsten 18 Todesfälle in Juliaca, die Straßenblockaden seit dem 4. Januar, vor allem in den südlichen Anden, die Proteste in verschiedenen Städten und die konfrontative Rede von Otárola am Montagabend (9.1.) lassen weder ein Nachlassen der Demonstrationen noch einen Richtungswechsel der Regierung erwarten. Einen Monat nach Beginn der Krise stellt sich die Frage, wer die Entscheidungen trifft und wo die Macht einer Regierung liegt, in der das Militär eine immer stärkere Präsenz zeigt. Tatsächlich waren es die obersten Befehlshaber von Armee und Polizei, die sich am Montag als erste zu den Todesfällen äußerten.

In diesem Zusammenhang mehren sich die Forderungen der peruanischen Linken nach dem Rücktritt Boluartes, etwa von Silva Santisteban und anderen progressiven Persönlichkeiten wie Verónika Mendoza und Mirtha Vásquez. „Unfähig, eine politische Lösung anzuführen und die so genannten ‚Ordnungskräfte‘ zu kontrollieren, erlaubt sie ihnen, noch mehr Peruaner zu töten. So kann Dina Boluarte nicht weiter die Regierung führen, #DinaRenunciaYa“, schrieb Vásquez.

Die Forderung nach einem Rücktritt wird bei jeder Demonstration wiederholt, ebenso die Auflösung des Kongresses, allgemeine Wahlen im Jahr 2023, eine verfassungsgebende Versammlung und in vielen Fällen auch die Freilassung von Castillo. Wie weit kann die Krise noch eskalieren? Wie viele Tote kann es noch geben? Niemand hat darauf eine Antwort in Peru, das seine Toten zählt und betrauert und sich auf neue Tage mit Streiks und Demonstrationen vorbereitet.

Auf Spanisch erstveröffentlicht bei Público

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