Die Amtszeit Javier Mileis beginnt

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Javier Milei bei der Amtseinführung auf dem Balkon der Casa Rosada auf der Plaza de Mayo. Die Amtseinführung von Javier Milei als Präsident von Argentinien fand am Sonntag, den 10. Dezember 2023 statt. Foto: Casa Rosada via wikimedia commons, CC BY 2.5 AR DEED.

(Buenos Aires, 11. Dezember 2023, agenciapacourondo).- Javier Milei heißt der neue Präsident Argentiniens für die kommenden vier Jahre. Was wie eine Dystopie klingt, ist real. Von seinen Eltern misshandelt, in der Schule gemobbt. Der Verlierer, der Verrückte, der Wirtschaftler, der Medienmann. Der, der mit Hilfe eines Mediums mit seinen verstorbenen Hunden spricht. Dieser Mann hat mit gerade einmal zwei Jahren Politikerfahrung das höchste Amt des Landes erreicht. Das „leicht zu infiltrierende“ Bündnis, das sich 2021 als La Libertad Avanza (zu deutsch: Die Freiheit kommt weiter) konsolidiert hat, ist an die Macht gekommen.

Milei ist der erste Präsident, der mit Wahlversprechen wie brutalen Kürzungen in der Bildung, Gesundheit und Gehaltszahlungen punkten konnte. Man muss ihn bewundern, denn er sagte alles, was Carlos Menem [Präsident Argentiniens von 1989 bis 1999, bekannt für seine radikale neoliberale Politik] sich nicht traute, auszusprechen. So verkündete Milei in seiner ersten Rede als Präsident, dass das Volk leiden müsse, danach aber ein Licht am Ende des Tunnels sehe. Damit nahm er eine Metapher von Ex-Vizepräsidentin Gabriela Michetti auf.

“Die schweren Entscheidungen, die uns in den kommenden Wochen bevorstehen, wollen wir nicht treffen, aber wir müssen es. Leider ließ man uns keine andere Wahl”, so Milei vor seiner Anhänger*innenschaft. Es kämen sehr harte Monate, mit monatlichen Inflationsraten von 40 Prozent für eine Wirtschaft, die mit einer niedrigeren Zahl zurechtkommen musste: acht Prozent pro Monat.

Auf Mileis angekündigten Anpassungen und Einschränkungen antwortete die Menschenmenge mit Jubel. Sie feuerten Präsident und Polizei an. Milei hatte sich auf den Balkon der Casa Rosada eingefunden, dazu tönte seine Siegeshymne Panic Show von La Renga.

Bitte flieht nicht vor mir / ich bin der König der verlorenen Welt / ich bin der König und ich zerstöre dich, sang auch der neue Präsident mit. In seiner linken Hand: Ein symbolischer Kommandostab mit den eingravierten Gesichtern seiner fünf Hunde. “Heute haben wir guten Argentinier das Ende der kommunistischen Nacht eingeläutet” ließ Zuhörer*innen an den Kalten Krieg denken. Oder an Donald Trumps Make America Great Again, als Javier Milei sagte “Lasst uns Argentinien wieder groß machen”.

Die Abwicklung

Es gibt ein Buch des New-Yorker-Journalisten George Packer namens Die Abwicklung. Es kam 2013 auf den US-amerikanischen Markt, vier Jahre noch vor Trumps Sieg. Packer erzählt das Leben von fünf Protagonisten in Nordamerika, die gelitten haben – zum Beispiel, weil die Immobilienblase 2008 platzte, aber auch aufgrund von anderen sozialen und politischen Meilensteinen. Die Leute verloren ihren Job, ihre Industrie, ihre Zukunftsvision. Packers Figuren sind Arbeiter*innen, Künstler*innen, Politiker*innen und Unternehmer*innen. Er verstreut sie munter im Buch, erzählt individuelle Leben, die scheinbar voneinander unabhängig sind. Sie alle verbindet das Abwickeln eines Prozesses: das Bröckeln der Gesellschaft. Sich anzustrengen reichte nicht aus, um an den amerikanischen Traum zu kommen – nicht mehr. Es bedeutete das Ende einer Ära, die Welt auf eine bestimmte Weise zu betrachten. Am Tag, als Donald Trump die Wahl gewann, ließ der Verlag das Buch erneut drucken, auch in anderen Sprachen. Im Schaufenster prahlten Banderolen: “Das Buch, das die Ankunft Donald Trumps vorhersagte”.

Auch der Wahlsieg von Milei ist ein Bröckeln der Gesellschaft. Der Zerfall Argentiniens, den die Argentinier*innen nicht zu bremsen wussten. Der Kandidat, der von denjenigen gewählt wurde, die aus dem System herausgefallen sind, die aus dem Wohlfahrtsstaat ausgeschlossen wurden, die unter den makabersten Folgen der Pandemie gelitten haben. Diejenigen, die Privilegien darin sehen, dass Staatsangestellte geregelte Einkünfte beziehen, Urlaub haben und Weihnachtsgeld bekommen. Diejenigen, die zur großen Masse des informellen Sektors gehören und an das Erbe des eingewanderten Argentiniens glauben, das vor der Ankunft des Peronismus harte Arbeit und individuelle Opferbereitschaft förderte. Diejenigen, die bewiesen haben, dass das Studium einer öffentlichen Uni nicht mehr ausreicht, um die Armutsgrenze zu überschreiten, ein Auto und ein Haus zu kaufen. Milei wurde von den Outsidern der Gesellschaft gewählt – er selbst erzählte im Fernsehen, wie er jonglierte, um seine Miete zahlen zu können, und wie er unter der Hyperinflation zu Zeiten Alfonsíns litt. Mileis Wähler*innenschaft sind die Kaputten, die alltäglich über die Runden kommen müssen, bevor die Sonne untergeht.

Milei steht auch für die Zerstörung von alledem, was Argentinien zu wissen glaubte. Dazu beigetragen haben die leeren Straßen in Quarantänezeiten 2020 und der Mangel an Mobilisierungen während des Albertismus [die Politik und Ideologie des Ex-Präsidenten Alberto Fernández, die sich vor allem durch den Versuch eines moderat peronistischer Umgang mit der schwierigen sozioökonomischen Lage auszeichnete]. Aber auch die Führungskrisen, und die öffentlichen internen Angelegenheiten trugen dazu bei. Es war der eigene Wille eines und einer jeden, nicht mehr einer Gruppe. Das ist der Kulturkampf, den Argentinien verloren hat. Die Vorstellungskraft geht verloren. Mileis Wähler*innenschaft hat vergessen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben, oder den Wirtschaftskrisen von 1989 und 2001. Das bedeutet nicht, dass die Generation all das leugnet. Es macht sie zu einer, die “neue Menschenrechte” fordert. Das Recht auf ein Zuhause, das Recht auf eine saubere Umwelt, das Recht auf gute Arbeit. Es ist eine Generation, die auch liest, nicht nur die Sozialen Medien konsumiert. Es ist aber auch unmöglich, Mileis Wahlsieg loszulösen vom Boom rechter Verlage mit vollen Sälen bei Lesungen, etwa von Agustín Laje [ein ultrakonservativer, rechter Schriftsteller und Politikwissenschaftler, der in der Vergangenheit durch homophobe und antifeministische Aussagen auffiel und zuletzt ein Buch unter dem Titel Die Generation der Idioten: Eine Kritik des Jugendzentrismus veröffentlichte]. Laje fordert die jungen Zuhörer*innen auf, mehr zu lesen, um Diskurse ideologisch zu vertiefen. Milei hat es geschafft, eine große, gesellschaftliche Diskussion anzustoßen, der den Zynismus und die Misserfolge der letzten acht Jahre satt hat. In ihrer Wut steckt ein Grundstein aus Frustration und ethischen Fragen, die man bereitwillig ignoriert. Oft sind es Diskussionen über Freiheit, Sicherheit, Korruption und die Republik, bei denen es am besten ist, auf eine Reaktion zu verzichten. Argentinien wurde eine Chance geboten und es hat sie verpasst. Wie kommt das Land darauf, dass es mit immer wiederkehrenden Worten eine Zukunft anlocken könnte?

Mileis Stärke und Schwäche zugleich ist, dass er keine Vergangenheit hat. Das Neue, die Idee einer neuen Regierung ohne Führungserfahrung. Auf einer Veranstaltung des Journalisten Eduardo Feinmann beschuldigte ihn Expräsident Mauricio Macri, Stimmen des Peronismus, die nicht Kirchner anhängen, abgewonnen zu haben. Auch auf X, vormals Twitter, hieß es, Milei hasse zwar den Radikalismus, aber ein bisschen Peronismus würde ihm nicht schlecht stehen. Insbesondere, wenn sein Koalitionspartner Macri heißt. Milei weiß, dass die PRO (Macris Partei) ihm einen Puffer bietet, zumindest vorerst. Eine Schlüsselfigur wird der neue Innenminister Guillermo Francos sein. Er ist ein ehemaliger Aktivist der Partei um Domingo Cavallo und ehemaliger Beamter der Regierung von Isabelita in den 1970er Jahren.

Das Leid kennenlernen

In seiner Rede vom Balkon der Casa Rosada sagte der neue Präsident das Mantra der Anarchist*innen auf: “der Anarchismus ist der grenzenlose Respekt gegenüber des Leben des Nächsten, und basiert auf einem Anti-Aggressionsprinzip, der Verteidigung des Lebens, der Freiheit sowie des Eigentums.” Es ist das Mantra der Epoche. Das neue “ich komme, um euch einen Traum vorzuschlagen” von Néstor Kirchner. Oder besser: „Ich komme, um euch einen Traum zu verschieben”, denn zunächst heißt es warten, zuerst muss Argentinien das Leid kennenlernen.

Die Autorin Sara Ahmed schreibt in ihrem Buch Das Versprechen des Glücks: “Glücklich zu sein macht das Warten aushaltbar und wünschenswert. Je mehr wir warten, desto mehr verspricht der Wandel. Unsere Erwartungen an das, was wohl kommen mag, wachsen.” Glück zirkuliert als Versprechen auch in Abwesenheit von Zufriedenheit, weil es die Gegenwart erträglich macht. Der Peronismus dieser Jahre hatte kein zweites Semester anzubieten. Ein glückliches Leben bedeutet, die Sehnsucht zu zügeln, das scheinen rechte Regierungen zu sagen. Der Diskurs sickert durch zwischen den Streamingplattformen und Lieferapps. Der Individualismus hat über das Kollektiv gesiegt. Eine Frau antwortet einem Reporter “ich werde ausharren”. “Ich”, sagt sie. Sie kommt zuerst, denn sie harrt schon seit Jahren aus. Ja, sie kann auch noch ein bisschen länger ausharren. Und was passiert mit denen, die es nicht können? Das scheint nicht zu interessieren.

Übersetzung: Patricia Haensel

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