(São Paulo, 31. Oktober 2022, taz).- Als das Wahlergebnis auf der Pressekonferenz die Runde macht, können viele Mitarbeiter*innen der Arbeiterpartei PT die Tränen nicht mehr halten – es sind Freudentränen. Denn in diesem Moment ist klar: Luiz Inácio „Lula“ da Silva hat die Stichwahl um die brasilianische Präsidentschaft gewonnen. Und vielleicht noch wichtiger: Der rechtsradikale Amtsinhaber Jair Bolsonaro wird keine weiteren vier Jahre regieren.
Die PT hatte am Sonntag in ein schickes Hotel im Zentrum São Paulos geladen. Neben der internationalen Presse waren auch prominente Gäste anwesend. „Für die Umwelt und Brasiliens Rolle in der Welt war Bolsonaro furchtbar“, sagte der ehemalige britische Labour-Chef Jeremy Corbyn der taz. „Außerdem hat er die Lebensgrundlage der Ärmsten zerstört.“
156 Millionen Brasilianer*innen waren am Sonntag zur Wahl aufgerufen. Medien schrieben im Vorfeld von „der wichtigsten Wahl in der Geschichte Brasiliens“. Denn mit Bolsonaro und Lula standen sich die wahrscheinlich wichtigsten Protagonisten von Brasiliens Politik der vergangenen Jahrzehnte im direkten Duell gegenüber.
Am Ende war es ein denkbar knappes Wahlergebnis: Lula kam auf 50,9 Prozent der Stimmen, Bolsonaro auf 49,1 Prozent. Etwas mehr als zwei Millionen Stimmen trennten die beiden Kandidaten voneinander.
Versöhnliche Töne des neuen alten Präsidenten Lula
Im Laufe des Tages mehrten sich besorgniserregende Berichte: Die Autobahnpolizei soll Menschen die Anfahrt zur Wahl erschwert haben. Zahlreiche Busse wurden angehalten, angeblich um Verbrecher aufzuhalten. Laut Lula-Anhänger*innen soll es sich um eine orchestrierte Aktion gehandelt haben. Die Autobahnpolizei steht Bolsonaro nahe, ihr Chef hatte noch am Sonntag bei Instagram zur Wahl des Rechtsradikalen aufgerufen.
Besonders auffällig: Die Aktionen fanden überproportional im Nordosten statt, wo die Mehrheit der Bevölkerung Lula unterstützt. Medien berichteten, dass die Polizeiaktionen bei einem Treffen im Präsidentenpalast geplant worden sein sollen. Trotz der mutmaßlichen Wahlbehinderungen gewann Lula die Wahl.
Um 20.44 Uhr betritt der ehemalige Gewerkschaftsführer unter Jubel die Bühne im Hotel in São Paulo. Fäuste werden in die Luft gereckt, im Chor schallt es „Olé, olé, olé, olá, Lula, Lula.“ Umringt von Politiker*innen und Aktivist*innen dankt Lula in seiner ersten Rede als frisch gewählter Präsident Gott. Danach hält er eine versöhnliche Rede. Er wolle Präsident aller Brasilianer*innen sein – nicht nur für die, die für ihn stimmten. Lula versprach nichts weniger, als das tief gespaltene Land wieder zusammenzubringen. Doch einfach wird das nicht.
Bolsonaro lag zwar hinter Lula, erzielte aber ein starkes Wahlergebnis. Mit dem Bolsonarismus hat der amtierende Präsident eine überaus aktive Bewegung hinter sich. Außerdem schafften etliche Bolsonaro-nahe Kandidat*innen den Einzug in die Parlamente. In São Paulo setzte sich ebenfalls am Sonntag der Bolsonaro-Kandidat Tarsício Freitas klar gegen den PT-Politiker Fernando Haddad durch. Damit werden die drei größten Bundesstaaten Brasiliens – São Paulo, Rio de Janeiro und Minas Gerais – künftig von Bolsonaro-Verbündeten regiert.
Die befürchtete Gewalt blieb zunächst aus
Eine Frau im roten Blazer steht neben Lula auf der Bühne: Es ist Dilma Rousseff, Brasiliens Ex-Präsidentin. „Dieser Sieg bedeutet viel für Brasilien“, sagt Rousseff, die 2016 durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren ihren Posten als Präsidentin verlor. „Heute haben wir gezeigt, dass wir zurück sind“, sagt Rousseff der taz.
Das wollen nicht alle akzeptieren. In einigen Städten blockierten Bolsonaro-Fans Autobahnen und erklärten das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Die gefürchteten größeren Ausschreitungen blieben allerdings aus. Bolsonaro selbst meldete sich nicht zu Wort. Doch viele prominente Verbündete des Präsidenten erkannten den Wahlsieg Lulas an.
Viel war im Vorfeld über Gewalt diskutiert worden, einige hielten sogar einen Putschversuch für möglich. Denn Bolsonaro hatte seit Monaten Lügen über das elektronische Wahlsystem verbreitet und erklärt, nur Gott könne ihm die Präsidentschaft entziehen. Doch für einen offenen Bruch mit der Verfassung dürfte ihm die nötige Rückendeckung fehlen. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft in Brasilien, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen funktionieren immer noch. Auch im Ausland setzten viele auf die Abwahl Bolsonaros. US-Präsident Joe Biden zählte am Sonntag zu den ersten Gratulanten Lulas.
Wenige hundert Meter vom Hotel entfernt versammelten sich zehntausende Anhänger*innen Lulas zu einer Siegesfeier. Es war ein euphorisches Fest bis tief in die Nacht. „Ich verspüre eine große Erleichterung“, sagte der Lehrer Adriel Fernandes, 39, der zusammen mit seinen zwei Kindern zur Wahlfeier gekommen war. „Hoffentlich können wir jetzt zurück zur Normalität.“
Bolsonaro ist abgewählt – Lula gewinnt die Stichwahl von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar