(Santiago de Chile, 11. September 2024, pressenza).- In dem Bestreben, ein zumindest rudimentäres Bewusstsein für unsere jüngste Geschichte einzubeziehen, möchte ich heute am 11. September dazu aufrufen, den Tausenden von Menschen und Familien Respekt zu zollen, die der zivil-militärischen Diktatur zum Opfer fielen, und wenn ich sage: rudimentär, dann, weil wir auch heute noch mit einem Schweigepakt leben und wahre Gerechtigkeit lediglich „im Rahmen des Möglichen “ existiert, was einem umfassenden Bewusstsein entgegensteht.
Das neoliberale Modell ist weiter fest verankert
Wir blicken zurück auf Schmerz und großes Leid als Preis für die Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und vielen anderen Grundrechten, die wir heute als unveräußerlich betrachten, zum Beispiel das Recht auf ein Leben in Würde. Doch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ende der Diktatur, nach verschiedenen „demokratischen“ Regierungen, sozialen Ausbrüchen und gescheiterten Verfassungsänderungen bestehen alle Schranken und Schlösser weiter. Viele der Rechte, für die Menschen ihr Leben gelassen haben, wurden bis heute nicht umgesetzt. Das neoliberale Modell, das in jenen Jahren des Autoritarismus und der Konzentration von Macht durchgesetzt wurde, ist nach wie vor in unserer Gesellschaft verankert, und mit ihm die Ungleichheiten und die Beschränkung der sozialen Rechte. Auch die Entmenschlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Relativierung von Grundsätzen und Werten sind Folgen dieses Modells, wenn auch als solche weniger greifbar. Möglicherweise haben Individualismus und Pragmatismus des Handelns uns noch mehr geschadet als Inflation und Arbeitslosigkeit. Ausgrenzung, der ungleich verteilte Zugang zu hochwertiger Bildung und Gesundheit, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, zu geringe Renten, Korruption, Straflosigkeit – das alles zeugt davon, dass das neoliberale Modell nach wie vor auf einem soliden Fundament steht, trotz etlicher Reformen und all‘ der unerfüllten Versprechen der politischen Führung. Das heutige Chile ist zwar befreit vom diktatorischen Joch, aber noch immer gefangen in einem System, das sich am Markt orientiert und nicht am Wohlergehen des Volkes.
El pueblo unido – mehr als nur eine Textzeile in einem Lied
Für diesen 11. September würde ich mir wünschen, dass die historische Erinnerung uns die Kraft gibt, nicht nachzugeben und nicht zuzulassen, dass eine privilegierte Minderheit weiter über das Schicksal der Mehrheit, über uns bestimmt. Wenn es hier um Bewusstsein geht, dann ist es an der Zeit zu begreifen, dass die wirkliche politische Macht bei der Bevölkerung liegt, vor allem wenn sie sich organisiert und gemeinsam agiert, um ihre Grundrechte in vollem Umfang durchzusetzen. Wie wäre es, wenn wir uns in den Räumen treffen würden, in denen wir uns täglich begegnen, in unseren Kiezen, auf den Straßen, in unseren Familienzusammenhängen, so wie es früher auch gemacht wurde, als die Menschen noch miteinander redeten, Ideen austauschten, als es noch Leidenschaft gab und Entschlossenheit, als Reden und Handeln noch eins waren, als wichtige Handlungen und Entscheidungen noch von höheren Idealen getragen waren. Eine Gesellschaft mit grundlegenden Menschenrechten ist keine Utopie, sie sie ist etwas, das alle angeht und das man erreichen kann.
Möge die Erinnerung und das konsequente Handeln unserer Vorgängergeneration uns den Weg weisen, möge die Zukunft Chiles und unserer Kinder uns Kraft und Motivation sein. Ich träume von dem Tag, an dem „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“ mehr sein wird als eine Textzeile in einem Lied, denn sie wurde geschrieben als eine Botschaft, dass wir in unserem Leben Veränderung bewirken können, als Subjekte und als Generation im Hier und Jetzt des historischen Raums.
Auch nach 51 Jahren ist der Kampf um Grundrechte nicht vorbei von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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