(Mexiko-Stadt, 4. Juli 2019, la jornada).- In den vergangenen zwei Wochen sind wichtige Ereignisse geschehen, die mit den Streitkräften in Verbindung stehen. Dazu gehört natürlich der Start der Nationalgarde. Für die Regierung der sogenannten Vierten Transformation (4T) ist die Garde eines ihrer wichtigsten Vorhaben. Die Hauptaufgabe der neuen Einrichtung soll es sein, das Land zu befrieden. Heer und Marine bilden das Rückgrat der Nationalgarde.
Gleichzeitig jährte sich am 30. Juni zum fünften Mal der Tag, der für einen der emblematischsten Schandflecken der Regierung Enrique Peña Nieto steht: das Massaker von Tlatlaya. In diesem Fall übte eine Militärpatrouille Selbstjustiz und richtete mindestens 12 bis 15 Personen hin, die sich bereits in ihrer Gewalt befanden. Die Vorkommnisse waren beschämend, aber noch schlimmer war der politische Umgang auf höchster Ebene damit. Es wurde versucht, das Massaker geheimzuhalten. Verteidigungsminister General Salvador Cienfuegos höchstpersönlich und der damalige Gouverneur des Bundesstaates Mexiko, Eruviel Ávila, belogen die Öffentlichkeit. Sie erklärten, alle Toten seien das Resultat einer bewaffneten Auseinandersetzung und nicht einer Hinrichtung. Sie begleiteten dies mit einer Täuschung, der Tatort wurde manipuliert.
Es ist ein historischer Zufall, dass der fünfte Jahrestag dieser emblematischen Menschenrechtsverletzung mit der Ankündigung zusammenfiel, die 70.000 Mitglieder der Nationalgarde ausschwärmen zu lassen. Die Frage ist, ob das Aufgebot von Heeresmitgliedern und Marinesoldaten – nun unter dem Dach der Nationalgarde – nicht ähnliche Risiken wie die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit schafft. Eine Militarisierung, die Taten wie in Tlatlaya ermöglicht hat.
Historisches Treffen im Fall Ayotzinapa
Das dritte Vorkommnis ist die Information, die der Staatssekretär Alejandro Encinas in der vergangenen Woche bekanntgab. Demnach haben sich die Mitglieder der präsidentiellen Kommission für den Fall Ayotzinapa mit der Armee, speziell mit Verteidigungsminister Luis Cresencio Sandoval getroffen. Das ist tatsächlich eine Neuigkeit: dieselbe Armee, die sich weigerte, mit der Unabhängigen Internationalen Expert*innengruppe (GIEI) zusammenzuarbeiten. Dieselbe, die Fakten verbarg. Dieselbe, die über ihre Anwesenheit in zwei Momenten der tragischen Ereignisse von Iguala log – an der Brücke Chipote und in der Klinik Cristina. Dieselbe, die die ländliche Lehreruniversität Ayotzinapa durch Julio César López Patolzin, einen der 43 Verschwundenen, infiltriert hatte.
Dieselbe Armee, die die Arbeit der Expert*innen, aber auch internationaler Einrichtungen wie der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) und des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte (ONU-DH) geschmäht hat. Die auf die Ankündigung der präsidentiellen Kommission für den Fall Ayotzinapa mit der schroffen Reaktion des Generals Alejandro Ramos Flores, Leiter der Rechtsabteilung des Verteidigungsministeriums, antwortete. Nun trifft sie sich unter dem Mandat eines neuen Oberkommandanten alias Andrés Manuel López Obrador mit den Familienangehörigen der Opfer und deren Repräsentant*innen, die Teil der präsidentiellen Kommission sind.
Das Treffen an sich ist bemerkenswert. Ich wage zu behaupten, dass sich zuvor kein General in der Position des Verteidigungsministers mit Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen getroffen hat. Doch angesichts der Rolle der Armee bei der Tragödie von Ayotzinapa, aber auch in anderen Fällen wie Tlatlaya, bleibt die unausweichliche Frage, ob das Treffen ein reales Zeichen für die institutionelle Bereitschaft ist, zur Wahrheit beizutragen. Und ob es eine explizite Anweisung des Präsidenten der Republik in seiner Funktion als Oberkommandanten der Streitkräfte gibt, damit diese mit den Familienangehörigen der 43 zusammenarbeiten.
Was wusste die Armee?
Die Fragen haben keinen rhetorischen Charakter. Die Militärs könnten aktiv oder passiv in den Fall Ayotzinapa verwickelt sein. Mitglieder des 27. Infanteriebataillons mit Sitz in Iguala könnten mit dem organisierten Verbrechen in der Region verbandelt sein. Ist es möglich, dass in Iguala eine so schwere Gewalttat wie gegen die 43 verübt wird, ohne dass die Armee zumindest relevante Information hat? Die Antwort ist zweifellos Nein. Ich glaube vielmehr, dass die Militärs entscheidende Information haben könnten, die zur Wahrheit führen.
In den vorausgegangenen zwei Regierungsperioden (2006 – 2018) musste die Armee keine Rechenschaft ablegen. Die Regierungen von Peña Nieto und Calderón gaben den Streitkräften eine Protagonistenrolle. Dies führte dazu, dass sie faktisch über der zivilen Macht standen. Heute stellt sich die Frage, inwieweit sich dieser Status ein Jahr nach Beginn der 4T geändert hat. Die Streitkräfte bilden das Rückgrat der neu geschaffenen Nationalgarde. Sie wurden sogar damit beauftragt, das Tankwagen-Programm zu koordinieren, als die Treibstoffversorgung [Anfang des Jahres] zusammenbrach. Ein anderes Beispiel sind Bauaufträge wie die Konstruktion des neuen Flughafens Santa Lucía.
Hoffen wir, dass die Protagonistenrolle, die die Streitkräfte nach wie vor im politischen Leben des Landes haben, kein Hindernis dafür sein wird, die Armee aufzurufen, Rechenschaft abzulegen. Dies gilt besonders für Fälle wie Ayotzinapa oder die Massenhinrichtung von Tlatlaya, die das Land gezeichnet haben. Hoffen wir, dass die Worte López Obradors wahr werden. Laut ihm wird die neue Nationalgarde keine Menschenrechte verletzen und die Regierung „wird keine Ruhe geben, bis der Verbleib der jungen Leute von Ayotzinapa bekannt ist“. In der Tat hängt dies zu einem Gutteil vom Oberkommandanten der Streitkräfte ab.
*Mario Patrón leitete mehrere Jahre die Menschenrechtsorganisation Centro Pro bevor er im Frühjahr 2019 zum Rektor der Jesuitenuniversität in der Stadt Puebla bestellt wurde.
Wird die Armee Rechenschaft ablegen? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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