(Guatemala-Stadt, 12. Februar 2018, Nómada).- Schon seit einigen Jahren ruft die politische Krise in Guatemala die düstere Epoche des internen bewaffneten Konflikts (1960-96) ins kollektive Gedächtnis und Unbewusste zurück. In dieser Epoche reichte es schon nach Würde und Rechten für alle zu streben, um getötet zu werden. In dieser Epoche reichte es schon, an die Einbeziehung der systematisch Ausgestoßenen zu denken, um gefoltert zu werden.
In einem kritischen Moment schlägt der Kongress nun eine Änderung des Gesetzes zur Nationalen Versöhnung vor und tritt einen stark vereinfachten und ziemlich zynischen Diskurs über „Psychotherapie“ für Opfer des internen bewaffneten Konflikts los. Es ist entscheidend noch einmal einen kritischen Blick auf das zu werfen, was im Land passiert. Es scheint der Wunsch zu bestehen, eine Wunde oberflächlich zu nähen, mit einem Pflaster zu versehen und sie schnell abzutun.
Individuelle Lösungen greifen zu kurz
Wir sind Teil von familiären Systemen, die divers und einzigartig sind, und gleichzeitig sehr ähnlich. In all unseren Familiensystemen gibt es Personen, die wegen ihrer Art zu denken, sich zu verhalten oder zu fühlen ausgeschlossen wurden. Denken wir an den schwulen Onkel, an die revolutionäre Tante oder den Verwandten beim Militär. Und daran wie auf rätselhafte Weise in der nächsten Generation wieder Cousins oder Cousinen auftauchen, die den Ausgeschlossenen sehr ähneln. Wenn wir verstehen, das wir ein Teil des Ganzen sind und nur deswegen mit unserer Einzigartigkeit auf diese Welt gekommen sind, weil sich vor uns viele Paare zusammengetan haben, fällt auf, dass die eigene Individualität zu kurz greift, um Guatemala zu verstehen. Guatemala, bebendes Land, ist ein System, das wir alle teilen, Familien und Personen, die hier geboren sind und hier leben. Und zu erkennen, wer die Ausgeschlossenen in diesem Makrosystem sind, das uns vereint, ist ein Schritt in Richtung Versöhnung.
Es ist nicht akzeptabel, die Wunde, die viele von uns betrifft und das ganze Land prägt, durch individuelle „Genesung“ zu heilen. Sich als Gesellschaft die Hände rein zu waschen und von den Opfern zu verlangen „sich eine Therapie zu suchen“ -von denen viele keinen Zugang zu qualitativ guter Gesundheitsversorgung haben- heißt, vor der Realität und der eigenen Menschlichkeit die Augen zu verschließen.
Humberto Ak’abal hat uns in seinem berühmten Gedicht folgendes gesagt: „Manchmal laufe ich andersherum, das ist meine Art zu erinnern. Wenn ich nur vorwärts liefe, könnte ich dir erzählen, wie das Vergessen ist.“ Ein nachdrücklicher Aufruf, immer wieder die Geschichte des Landes zu überdenken. Um nicht zu vergessen, woher wir kommen und auf welche Weise wir Verbindungen untereinander aufgebaut haben. Wie sind unsere Vorfahren mit den Umständen ihrer Zeit umgegangen und wie werden wir mit dem historischen Moment umgehen, in den wir hineingeboren wurden?
Das ganze Land braucht eine „Psychotherapie“
Guatemala kann sich trotz seiner schmerzhaften Geschichte in einen lebenswerten Ort verwandeln. Ob das gelingt, hängt von der politischen Reife, von dem Wunsch die endlose Agonie zu beenden und von der Suche nach einer umfassenden und tiefgreifenden Genesung ab.
Nicht die Opfer allein, sondern das ganze Land braucht eine „Psychotherapie“, die darin besteht den bewaffneten Konflikt aufzuarbeiten (justicia transicional): Für die Anerkennung der Rechte aller Personen. Für umfassende und rechtschaffene Reformen im Justizwesen und die Stärkung der Institutionen. Mit einer Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, die Ungleichheit zu reduzieren und durch eine Absage an Korruption und Straflosigkeit. Damit der Staat nie mehr als persönliche Beute missbraucht wird.
Meinung: „Sollen sie doch zum Psychologen gehen“ – Individuelle Therapie statt kollektive Aufarbeitung!? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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