(Santiago, 8. Juli 2016, medio a medio-poonal).- Vom 11. bis 14. Juli wird der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zu einem Staatsbesuch in Chile erwartet. Ein Schwerpunkt seiner Reise wird der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit sein. Zuvor hatte die Bundesregierung entschieden, Zugang zu Akten des Auswärtigen Amtes zur Colonia Dignidad zu gewähren. Colonia Dignidad war eine vom deutschen Sektenführer Paul Schäfer geführte Siedlung in Chile, die während der chilenischen Diktatur als Haft- und Folterzentrum genutzt wurde.
Parallel zu offiziellen Aktivitäten verschiedene Events und Demonstrationen
Zu den offiziellen Aktivitäten im Besuchsprogramm gehören die Eröffnung eines Deutsch-Chilenischen Forums mit NGO-Vertreter*innen und in Chile aktiven deutschen politischen Stiftungen, sowie ein Besuch im Erinnerungsmuseum (Museo de la Memoria), das den Opfern der Diktatur gewidmet ist.
Mit dem Besuch Gaucks sind viele Erwartungen verknüpft, sowohl von Seiten der Opfer der Colonia Dignidad selbst als auch von verschiedenen Gruppen, die seit Jahren um Gerechtigkeit für diejenigen kämpfen, die unter den Grausamkeiten in der Sektensiedlung gelitten haben. Aus diesem Grund wurden parallel zu den offiziellen Aktivitäten verschiedene andere Events und Demonstrationen organisiert, in deren Fokus die noch immer offene Frage der Gerechtigkeit sowie die Forderung nach einer endgültigen Schließung der Siedlung stehen, die heute den Namen „Villa Baviera“ – in etwa „Deutsches Dorf“ – trägt. Dazu gehören z. B. ein zweitägiges öffentliches Fasten der Angehörigen der verschwundenen Gefangenen aus Maule und eine Demonstration in Talca Ende Juni. Dazu gehören auch einige Vorführungen von bisher nicht öffentlich gezeigten Filmen über die Situation in der Sektensiedlung mit anschließenden Diskussionen. [Beispielsweise der Film „Colonia“ v. Orlando Lübbert, 1985, Anm. d. Ü.]
In diesem Rahmen organisierten die Psychologische Fakultät und das Interdisziplinäre Rechercheprogramm Erinnerung und Menschenrechte der Universität Alberto Hurtado in Santiago in Zusammenarbeit mit dem Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL, Berlin) eine Veranstaltung zur aktuellen Situation der Opfer der Colonia Dignidad und zu deren Erwartungen an die chilenische und die deutsche Justiz. Zur Sprache kamen sowohl die ungelösten juristischen Fragen aus der Vergangenheit als auch die aktuelle Verantwortung beider Staaten den Opfern gegenüber.
Der ehemalige Bewohner der Siedlung Winfried Hempel vertritt heute als Anwalt einige Menschen, die noch immer in der Villa Baviera leben. Er betont die bittere Realität des Systems und den Teufelskreis, in dem die Opfer weiterhin leben, da der Staat keine wirkliche Verantwortung übernimmt: „In der Siedlung sehen wir fortwährende Ungerechtigkeit gegenüber den nicht privilegierten Bewohnerinnen und Bewohnern. Zum Beispiel wurde ihnen für 50 Jahre – harter, unter Zwang verrichteter – Arbeit kein Lohn ausgezahlt. Außerdem müssen sie seit drei oder vier Jahren Miete zahlen, um in den Wohnungen zu leben, die sie selber in Sklavenarbeit errichtet haben.“
„Es ist beschämend zu sehen, dass Eltern selbst ihren Kindern nicht helfen können“
Auch Efraín Vedder, der im Alter von zwei Monaten [als zwangsadoptiertes Kind, Anm. d. Ü.] in die Enklave kam, betont, dass beide Staaten ihrer Verantwortung für die Opfer gerecht werden müssten, indem sie diesen eine reale Möglichkeit eröffneten, den Ort zu verlassen: „Ich meine, dass zuerst an die Opfer gedacht werden muss. Für die Opfer ist es nicht gut, in einer Einrichtung zu arbeiten, unter der sie viele Jahre ihres Lebens gelitten haben. Meiner Meinung nach muss der Staat diesen Menschen zuerst ein Stück Land und Wohnraum finanzieren. Es ist beschämend zu sehen, dass Eltern selbst ihren Kindern nicht helfen können, so wird das Leiden fortgesetzt.“
In diesem Sinne fordert Myrna Troncoso, Präsidentin der Vereinigung der Angehörigen der Verschwundenen und Ermordeten Politischen Gefangenen (Asociación de Familiares de Detenenidos Desaparacidos y Ejecutados Políticos ) aus Talca eine Festlegung des chilenischen Staates: Die Geschehnisse in der Colonia Dignidad müssten eingehend untersucht und jede Aktivität in der heutigen Villa Baviera verboten werden, die gegen einen Geist von Erinnerung und Respekt gegenüber den Opfern verstoße.
Weiterhin erwarte sie auch entsprechende Gesten seitens des deutschen Staates, die Taten der Vergangenheit aufzuklären, Gerechtigkeit walten zu lassen und Erinnerung zu ermöglichen. Deutschland habe ihre Bitte, an einem Gesprächstermin mit Gauck teilnehmen zu dürfen, nicht beachtet: „Vor zwei Monaten haben wir Präsident Joachim Gauck darum gebeten, uns als Angehörige der verschwundenen und ermordeten politischen Gefangenen zu empfangen. Wir haben keine Antwort erhalten und warten immer noch darauf, dass dies geschehen möge.“
Opfer erwarten von Steinmeier mehr als Entschuldigungen
Schlussendlich erwarten die Opfer der Colonia Dignidad mehr als die vom deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier angebotenen Entschuldigungen. Sie erwarten konkrete juristische Schritte. Dazu gehört auch eine Zivilklage, die in Kürze in Deutschland eingereicht werden soll. Rechtsanwalt Winfried Hempel erklärt: „Diese Klage basiert auf vier Säulen, die gemeinsam den juristischen Kausalzusammenhang ergeben. Was diese Klage angeht, bin ich sehr zuversichtlich. Wir haben sie sehr sorgfältig aufgesetzt.“
So engagieren sich die Opfer weiterhin und hoffen auf Gerechtigkeit, die zwei Staaten ihnen nach 50 Jahren unterlassener Hilfeleistung bislang noch immer nicht gewährt haben.
Joachim Gauck zu Staatsbesuch in Chile und die Schatten der Vergangenheit beider Staaten von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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