(Buenos Aires, 7. September 2018, Página 12).- Mit ihrer Reise nach Argentinien will Mónica Benicio auf die weiterhin andauernde Straflosigkeit nach der Ermordung ihrer Lebensgefährtin, der Stadträtin Marielle Franco, aufmerksam machen. Marielle Franco befand sich an jenem 14. März auf der Rückreise von einer Versammlung in Río de Janeiro, als das Auto von einem anderen Fahrzeug gestoppt wurde. Marielle wurde durch fünf Schüsse in den Kopf getötet, auch der Fahrer ihres Wagens erhielt tödliche Schussverletzungen.
Menschenrechtsverbände und andere Politgruppen hatten Benicio zu der Reise nach Argentinien eingeladen, wo sie am 5. September gemeinsam mit den Menschenrechtler*innen Adolfo Pérez Esquivel, Nora Cortiñas und Pino Solanas an einer Gedenkveranstaltung für die ermordete Politikerin (der PSOL, Partei für Sozialismus und Freiheit) Marielle Franco teilnahm. Benicio besuchte außerdem den „Parque de la Memoria“, zur Erinnerung an die Opfer und Verschwundenen der argentinischen Militärdiktatur in Buenos Aires. In Begleitung von „Mariellita”, einer Puppe, die dem Aussehen Marielles nachempfunden wurde, sprach Benicio mit Página12.
Wie steht es derzeit um den Fall Marielle Franco?
Bisher gibt es nur einige Verdachtsmomente, die eher auf die Arbeit der Medien als auf die der Behörden zurückzuführen sind. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es eigentlich nichts, keine Stellungnahmen, keine klaren Aussagen. Nur hohle Statements, die sich nicht danach anhören, als hätte man bald eine Antwort auf die Frage, wer sie getötet hat, wer ihre Ermordung in Auftrag gegeben hat und warum. Jetzt sind schon 175 Tage vergangen und es hat sich immer noch nichts getan.
Nach Marielles Ermordung versprach der brasilianische Präsident Michel Temer, dass die Täter nicht straffrei ausgehen werden. Glauben Sie, dass es noch Gerechtigkeit geben wird?
Temer ist kein rechtmäßiger Präsident; ich erkenne ihn jedenfalls nicht an, also haben seine Worte auch keine Bedeutung für mich. Von Gerechtigkeit hat er keine Ahnung. Er hat einfach gesagt, was der brasilianische Präsident in einer solchen Situation sagen sollte, zumal Marielles Ermordung ein grauenhafter Angriff auf die Menschenrechte war und die ganze Welt beschämt auf Brasilien schaute. Die gesamte Welt fordert Gerechtigkeit für Marielle und aufgrund des Amtes, das er bekleidet, hat er nun diese Erklärung abgegeben, aber ich habe keine Zweifel, dass uns im Fall Marielle Gerechtigkeit widerfährt, egal, wie viel Zeit und Mühen das kosten wird.
Wie sah die Unterstützung durch die internationalen Menschenrechtsorganisationen aus?
Ich habe sehr viel Unterstützung erhalten, nicht nur von Menschenrechtsgruppen, sondern vor allem von Frauen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, die an verschiedenen Orten der Welt tätig sind und mich zu Diskussionsrunden und Veranstaltungen einladen und mir zur Seite stehen, so wie gestern bei der Gedenkveranstaltung im Nationalkongress, wo sie mir zeigten, dass ich nicht alleine bin im Kampf. Das ist ganz wichtig für mich. Denn es gibt mir die Kraft weiterzumachen.
Marielle hat stets das gewalttätige Auftreten der Polizei in Río de Janeiro und besonders in den Favelas angeprangert. Hatte sie keine Angst vor den Folgen?
Aus der Richtung gab es keinerlei Bedrohungen. Sie hatte vor gar nichts Angst, sie war sehr kämpferisch in ihrer Art aufzutreten und sich auszudrücken. Aber nichts von dem, was sie getan hat, rechtfertigt das barbarische Verbrechen vom 14. März.
Marielle wurde in der Favela Maré nördlich von Río de Janeiro geboren. Ihr lag sehr viel daran, die Lebensbedingungen der Menschen in diesen Vierteln zu verbessern. Wie war es für sie, dort zu leben?
Das Leben in den Favelas ist nicht einfach. Einmal habe ich Marielle geholfen, einen Vortrag vorzubereiten, und dabei habe ich einen Satz eingebracht, den mir eine Freundin mal gesagt hatte: „Als Favela-Bewohner*in wirst du direkt in die Tragödie hineingeboren“. Wer dort aufwächst, gewöhnt sich an dieses gewalttätige Umfeld, was nicht heißt, dass wir jede Art von Gewalt, ob soziale, politische oder ökonomische Gewalt, banalisieren. Aber es gibt dabei etwas sehr Wichtiges, das uns nicht auffällt, nämlich dass in uns etwas Widerständiges wächst. In gewisser Hinsicht ist das ganz schön hart, aber gleichzeitig ist es auch etwas sehr Schönes, weil es zwischen uns eine Verbindung gibt, eine Form der nachbarschaftlichen Verbundenheit, die in den Stadtvierteln der Mittelklasse nicht üblich ist.
Wie hat das Leben in Maré Marielles politische Entwicklung beeinflusst?
Ich denke, dass das für sie sehr wichtig war. Dort hat sie gelernt, solidarisch und empathisch zu sein. Diese Entwicklung hat mit Solidarität und Bescheidenheit zu tun und dadurch sind wir gewachsen. Wir haben eine andere Einstellung, wenn es darum geht einen Machtposten zu übernehmen, weil wir diesen Schmerz ganz aus der Nähe kennen. Daher ging Marielles Art Politik zu machen über Zugewandtheit. Sie war eine Politikerin, die die Menschen auf der Straße umarmt hat, immer mit einem Lächeln, die geweint hat, wenn sie mitgekriegt hat, wie eine Mutter ihr Kind verliert oder wie die Polizei das Haus eines Favela-Bewohners stürmt. Marielle hat sich selbst in dem Schmerz der anderen gesehen.
Im Jahr 2017 wurde Marielle zur Stadträtin von Río gewählt und landete auf Platz 5. Wofür stand Marielle?
In Brasilien waren sämtliche Machtbereiche immer von weißen reichen Männern mit Macho-Attitüde besetzt. Als Marielle kandidierte, brauchte die Stadt eine Person, die alles das, wofür sie eintrat, selbst repräsentierte. Sie war eine lesbische schwarze Frau aus den Favelas und trat für die Rechte dieser Menschen ein. Es bedurfte so einer Person, um die Politik in Río de Janeiro zu verändern.
Wie waren die Jahre mit Marielle als Stadträtin?
Ihr Mandat hätte vier Jahre gedauert, ein Jahr und drei Monate war sie als Stadträtin tätig. In dieser Zeit hat sie zwar viele Gesetzesentwürfe kollektiv vorbereitet, aber wenn es zur Abstimmung kam, wurden sie immer abgelehnt. Bis zu dem Tag, an dem sie starb, hatte sie kein einziges Projekt durchbringen können. Sieben Monate später haben wir sechs ihrer Projekte erneut zur Abstimmung vorgelegt, fünf davon bezogen sich auf die Sicherheit der Menschen in den Favelas am Rand der Stadt und die Sicherheit von Frauen, und wir haben es geschafft, sie durchzubringen – nach ihrem Tod. Das waren die Kämpfe, in denen Marielle sich engagiert hat. Wenn wir sie heute noch hier hätten, hätten wir kein einziges Projekt durchgekriegt.
Wie geht Ihr Leben nun weiter?
So, wie ihr mich gerade erlebt: Ich reise ständig durch die Welt, wo immer man mich hin einlädt. Ich habe als Aktivistin weitergemacht, setze mich für Menschenrechte ein und fordere Gerechtigkeit für Marielle. Heute gibt es ein Projekt, das mich persönlich berührt, es geht nicht nur um Gerechtigkeit für Marielle, sondern um die Fortsetzung ihrer Kämpfe, um zu verhindern, dass sie verlorengehen.
Was bedeutet es, Frau zu sein, schwarz, lesbisch und aus einer Favela zu stammen?
In einem Wort: Widerstand.
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