(Berlin, 24. April 2023, npla).- Die Suche nach der jüngsten Vergangenheit hängt für gewöhnlich davon ab, inwieweit uns zuverlässige Quellen zur Verfügung stehen. Wichtige Zeitdokumente sind neben den Berichten der Überlebenden private Archive und die zeitgenössische Presse. Doch was geschieht, wenn die Erinnerungen der Protagonist*innen voneinander abweichen oder wenn es keine zuverlässigen Archive gibt? Dann ist es das Kollektiv, das in vorderster Reihe steht, Geschichten und Erinnerungen rekonstruiert, um einen klaren, zuverlässigen Beweis für eine Zeit, eine Erfahrung, einen Kampf zu hinterlassen. Dies ist das Fazit eines Gesprächs mit Cecilia Duffau, Autorin des Buches Xenia. Una luchadora social, erschienen im Verlag Senda. Cecilia Duffau wurde in Montevideo geboren, heute ist sie Grafikdesignerin und Schriftstellerin. Während der letzten zivil-militärischen Diktatur (1973-1985), unter der ihr Land zu leiden hatte, saß sie als politische Gefangene im Gefängnis, wo sie die Protagonistin ihres Buches, Xenia Itté, kennenlernte.
Xenia hatte etwas unglaublich Verbindendes
“Das Besondere an ihr war, dass sie in ihre politischen Zusammenhänge etwas unglaublich Verbindendes hineingetragen hat. Ihre Aufgabe war es, Gruppen zusammenzuführen, und sie hatte für jeden und jede stets ein aufmunterndes Wort. Sie hat immerzu gesungen, und sie hat ihre Mitgefangenen dazu ermuntert, die natürlichsten und grundlegendsten Dinge des Lebens miteinander zu teilen, denn das ist es, was uns Menschen Sicherheit gibt“. Xenia Itté wurde 1941 an der Grenze zu Brasilien geboren, wuchs in einer einfachen Familie auf, zeigte schon früh soziales Engagement und Interesse für die politischen Ereignisse. Cecilia erzählt über ihren Beitritt zum MLN Tupamaros, ihre Beziehung zu ihrem Genossen Raúl Sendic, den Niedergang der Bewegung, ihre Verhaftung und die Folter, die sie 13 Jahre lang ertragen musste. Freiheit, Leben und Träume. Dies sind nur einige Zwischenstationen auf einer kurzen Reise im langen Leben von Xenia Itté.
“Komm, lass uns das Meer angucken gehen”
Wenn es den Menschen schlecht geht, retten sie sich auf tausend Arten. Oft sagte Xenia zu Brenda Rovetta: „Komm, lass uns das Meer angucken gehen“, und sie gingen an der weißen Linie entlang, um durch die Fenster, die auf die Bucht hinausgingen, wenigstens einen kleinen Blick auf das Meer und den Himmel zu erhaschen. Aber für die wachhabenden Marinesoldaten war es unerträglich, dass die Gefangenen einfach durch diese schmutzigen Scheiben direkt aufs Meer blicken. Deshalb schlossen sie schließlich die Fenster für immer und überstrichen die Scheiben mit Farbe. Brenda erzählt davon, dass manchmal Yankee-Soldaten zu Besuch kamen, um an gemeinsamen Schießübungen teilzunehmen. “Sie zwangen uns, uns mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen, und Xenia, die neben mir ihre Wange gegen den Beton drückte, sagte zu mir: ‘Wenn sie uns befehlen, das zu machen, dann ist bestimmt irgendetwas Gutes im Gange.’ Selbst in den schlimmsten Situationen suchte sie immer nach etwas Positivem, vermittelte Ruhe. Und siehe da: Am nächsten Tag bekamen wir einen anständigen Eintopf, denn anscheinend fanden uns die Besucher zu mager.”
Erinnerung ist etwas Kollektives
Cecilia erinnert sich: “Ich lernte Xenia 1982 während meiner Inhaftierung im Gefängnis von Punta de Rieles kennen. Wir lebten drei Jahre lang zusammen im selben Sektor. 1985 wurden wir entlassen und haben seither Kontakt gehalten. (…) In unseren Gesprächen ist mir klargeworden, wie zerbrechlich das Gedächtnis ist und wie sehr die Erinnerung etwas Kollektives ist. Die Erinnerung lebt in dem Kollektiv. Das Kollektiv bewahrt sie und hält sie lebendig.“
Einen Audiobeitrag zu Cecilia Duffau und ihrem Buch Xenia. Una luchadora social findet ihr hier.
Die Zerbrechlichkeit der Erinnerung. Ein Gespräch mit Cecilia Duffau von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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