Die Gaucho-Kultur – indigenes Leben trifft auf europäische Einflüsse

(Berlin, Dezember 2020, npla).- Als Folge der Kolonisierung entstand die Gaucho-Kultur aus dem Zusammentreffen indigener Bewohner*innen mit europäischen Einwander*innen. Kennzeichnend waren ihre Verbundenheit mit der Erde, ihre Kenntnisse und ihr Respekt gegenüber der Natur. Im Jahr 2017 wurden der Gaucho und seine Traditionen von der Regierung Uruguays zum nationalen Kulturerbe erklärt. Gemeinsam mit den Nachbarländern Argentinien und Brasilien strebt Uruguay nun die Erklärung der Gaucho-Brauchtümer zum Weltkulturerbe durch die UNESCO an. Die Erinnerung an ihre Traditionen, der Bewahrung ihres Vermächtnisses und die Wertschätzung ihrer Geschichte sollen die Anerkennung der indigenen Kultur fördern und für künftige Zeiten sichern.

Ein riesiges Gebiet zwischen Pampa, Prärie und Bergen

Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den spanischen und portugiesischen Kolonien im Cono Sur: Der riesige Viehbestand, die spärliche Besiedlung und das weitgehende Fehlen staatlicher Interventionen begünstigten die Entstehung der Gaucho-Kultur. In einem riesigen Gebiet zwischen Pampa, Prärie und Bergen traf eine sehr spezielle Mischung aus freien Menschen, Abenteurern und Gejagten aufeinander. Das östliche und nördliche Flachland war einst eine unkontrollierbare Ebene. Deshalb galt dieses Land der Freiheit mit seinem Überfluss und seiner Unkontrollierbarkeit schon früh als Rückzugsort für Menschen, die vor irgendetwas auf der Flucht waren. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann die Eingrenzung von Gebieten mit Hilfe von Zäunen. Es entstanden die sogenannten Estancias, eine regionaltypische Mischung aus Wohn- und Produktionsort mit eigenen ethnischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten.

Die Gauchos und der Beginn des “Lederzeitalters”

Unter Gaucho-Kultur verstehen wir die Gesamtheit von Kenntnissen, Künsten, Traditionen und Bräuchen der Landbevölkerung im Süden Amerikas. Dazu gehören die Naturverbundenheit, das Leben mit Pferden, die Gitarre und der Mate. Bei meinem Aufenthalt im tiefen Inneren Uruguays traf ich Blanca Rodríguez aus dem Volk der Charrúa. Blanca brachte den überraschenden und aufschlussreichen Gedanken auf, dass “der Gaucho von Indigenen abstammt und diesen sehr ähnlich” sei. Ich war erstaunt. So hatte ich es noch nie betrachtet; in meiner Vorstellung als Stadtmensch war der Gaucho und alles, was mit ihm zusammenhing, immer etwas Fremdes gewesen. Was ich mit der Figur des Guacho in Verbindung brachte, war geprägt von der Karwoche, dem Fest der Tradition und dem epischen Gedicht von José Hernández, das der beliebte argentinische Volkssänger Jorge Cafrune in seinem Stück “Fragmentos del Martín Fierro” in sein Repertoire aufgenommen hatte:

„Hier singe ich nun / im Takt der Vihuela, / auf dass der Mensch, der es hört, / obschon geplagt von seltsamem Schmerz, / wie der einsame Vogel / getröstet werde von dem Gesang.“
„Ach, was für Zeiten!… Welch stolzes Bild, / einen Landsmann reiten zu sehen! / Unter den erfahrenen Gauchos gab es, / selbst wenn das Pferd zurückwich, / nicht einen, der nicht anhielt/ mit dem Halfter in der Hand.“

Aber wer waren die echten Gauchos? Und was bedeutet es, ein Gaucho zu sein? Als Gaucho bezeichnet man eine Person und eine Lebensweise, die Ende des 18. Jahrhunderts mit der Etablierung der Rinderzucht durch spanische Kolonisatoren in der Region des Rio de la Plata in Südamerika entstand. Die Vaquerías waren unbewachte Viehreservate, ein unmittelbarer Vorläufer der Haciendas und der bereits erwähnten Estancias. Es gab Genehmigungen für die Jagd auf Stiere und Kühe im freien Feld. Indigene Gruppen, Vertragsarbeiter und Fährtenleser jagten und häuteten die Tiere und trieben Handel mit dem Leder, manchmal auch heimlich. Mit den aufkommenden Industrien stieg die weltweite Nachfrage nach Leder, und so breitete sich der Lederhandel sehr schnell aus. Dazu der uruguayische Historiker Gonzalo Abella: “Leder, Leder, Leder. Lederriemen für die erste industrielle Revolution. Die erste Spinnmaschine Spinning Jenny. Von Tieren gezogene Maschinen. Leder für die Armeen, Leder für die Gürtel. Leder als flexibel einsetzbares Element in einer Welt ohne Kunststoff.“

Gaucho-Traditionen indigenen Ursprungs – auch heute noch lebendig

Mit einigen wenigen Worten, als ginge es um ein Geheimnis, hatte Blanca mir eine seltsam große neue Welt eröffnet. “Tacuarembó ist eine relativ kleine Stadt. Viele Aspekte der ländlichen Umgebung treffen hier aufeinander. Die Bewahrung der alten Bräuche konzentriert sich vor allem auf die Figur des Gaucho. Zwischen der Kultur des Gaucho und der indigenen Kultur gibt es etliche Übereinstimmungen, auch hinsichtlich der Bräuche, da ist zu Beispiel der Brauch des Wortgebens und des Worthaltens, oder dass die neugeborenen Kinder dem Mond vorgestellt werden”, erklärt Blanca. Einige dieser Traditionen haben wir uns näher angeschaut. Was bedeutet “die Kinder dem Mond vorstellen”? Blanca erklärt: „Das ist eine Zeremonie, die zum Vollmond oder zu einer anderen Mondphase abgehalten werden kann. Die Idee ist, dass der Mond dem Kind die Reinheit und Kraft gibt, die es braucht, um sich in seinem Leben richtig entfalten zu können.“ Rocio Arapeiz, eine indigene Charrúa-Nachfahrin aus der argentinischen Provinz Entre Ríos, erzählt von einer Tradition ihrer Familie: “…das Schneiden des Regens war ein Ritual in meiner Familie. Man steckte eine Machete oder ein langes Messer in den Boden, das Ritual wurde bei verschiedenen Gelegenheiten eingesetzt, wenn zum Beispiel der Sturm sehr stark war, schnitten sie den Regen ab. Wir kannten das gar nicht, aber unsere Großmutter hat dieses Ritual noch praktiziert.“ Charrúa-Nachfahrin Ana María berichtet aus dem Departement Tacuarembó: “…Die Kinder dem Mond vorzustellen ist ein indigener Brauch. Viele Familien tun es und wissen nichts über den indigenen Ursprung. Sie nehmen es als eine Form der Taufe. So wie das Kind in der Kirche getauft wird, präsentiert man das Kind dem Mond, die Wassertaufe wird zu Hause mit einer Patin und einem Paten durchgeführt, und dann wird das Kind, wenn möglich, in die Kirche gebracht und nochmals getauft. Hier im Inneren des Departements Tacuarembó wird die Taufe in unseren ländlichen Gebieten immer noch genauso vollzogen…“

 Der Begriff des Gaucho geht vermutlich auf ein spirituelles indigenes Wesen zurück

 Mit der Ausweitung des Lederhandels verändert sich auch die Lebensweise der Ureinwohner*innen der Pampa und der Prärien. Statt wie bisher den großen Wildtierherden zu folgen, werden sie sesshaft. Während das Leder sich als bestimmender Faktor im Leben der Menschen etabliert, übernehmen die Geflohenen mehr und mehr die Bräuche und Gepflogenheiten der indigenen Bewohner*innen, die wiederum zunehmend Gaucho-Typisches in ihren Alltag aufnehmen. Aus der Verbindung entsteht etwas Neues, ohne dass die eigene Identität und die Beziehung zur Natur darunter leidet. Aus der Welt der Indígenas wird die Welt des Gaucho. Was übrigens den Ursprung des Begriffs Gaucho angeht, hat der Historiker Gonzalo Abella dazu eine Theorie entwickelt: “Zur Herkunft des Begriffs Gaucho herrschen kontroverse Meinungen, aber es ist sehr gut möglich, dass er von gualicho stammt. In der indigenen Glaubenswelt bezeichnet gualicho das schützende Wesen der Prärie, das allen Menschen, auch Europäer*innen und Schwarzen Menschen Zuflucht bietet.

Das Thema Gaucho hat noch viele weitere Facetten. In der Weltliteratur wird der Begriff des Gaucho oft als Synonym für Rückständigkeit verwendet; Alberto Zum Felde, Daniel Vidart, oder Jorge Luis Borges nehmen mit Verachtung oder mit rassistischen Beiklängen Bezug auf die Identität des Gaucho. Die Kehrseite ist die Negierung des ethnischen Aspekts, wie in einem relativ jungen Werk von Álvarez Caballero: „Der Gaucho der Region des Rio de la Plata im 19. und in den ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts“ (2015). Dort heißt es: „Der Gaucho ist somit keine ethnische Kategorie, sondern ein soziale…“

Ein faszinierendes Beispiel des multiethnischen Zusammenlebens

Beim Hören und Lesen dieser Berichte frage ich mich: In der Zeit des Lederhandels waren die Prärie, die Berge und Ebenen von Indígenas, Menschen afrikanischen Ursprungs, Europäer*innen aus verschiedenen Ländern und Mestiz*innen bewohnt. Wenn das kein Beispiel von multiethnischem Zusammenleben ist, was ist es dann? Und warum wird es nicht als solches anerkannt? Vielleicht, weil dieses indigen geprägte Modell des Zusammenlebens in der Prärie etwas Konfrontatives hatte? Weil es beängstigend und gefährlich erschien?

Wir möchten mit einem Text von Omar Lobos schließen. In seinem Werk “Juan Calfucura. Briefe 1854-1873″ heißt es:
„… mich faszinieren die Beziehung der Mapuche zu den Pferden und das Gaucho-Leben in der Pampa, dem Land, das keine Grenze kannte, sondern einen Raum bot für das Zusammenleben von weißen Menschen mit den Mapuche und für das Zusammenwachsen ihrer Kulturen…”

Zu diesem Text erschien Anfang Dezember bei radio matraca ein spanischsprachiger Audiobeitrag!

Übersetzung: Lui Lüdicke

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