von Rogéria Araújo
(Fortaleza, 30. August 2011, adital/poonal).- Seit Monaten fordert die Studierendenbewegung in Chile kostenlose und hochwertige Bildung. Seit der „Bewegung der Pinguine“ 2006, als Schüler*innen der weiterführenden Schulen für Verbesserungen in der Bildung auf die Straße gingen, gab es keine so aufgeladene Situation mehr in Chile.
Camila Vallejo, Vorsitzende des Studierendenverbands der Universidad de Chile FECH (Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile) sprach im Interview über den Stand der Mobilisierungen.
Seit der „Bewegung der Pinguine“ 2006 gab es bis zur jetzigen Mobilisierung keine vergleichbare mit solcher Bedeutung in Chile. Wie kann man diese beiden Situationen vergleichen?
Camila Vallejo: Die soziale Bewegung, dieses Jahres ist Ausdruck eines langen Prozesses, in dem die Bewegung der Pinguine einen sehr wichtigen Einfluss hat. Viele der Studierenden, die jetzt die Notwendigkeit spüren, zu demonstrieren, hatten als Schüler*innen an den Protesten 2006 teilgenommen. Genauso sehen die heutigen Schüler*innen die Bewegung von 2006 als Erbe der vorigen Generationen. So werden sie schnell aktiv und übernehmen Verantwortung in der jetzigen sozialen Bewegung.
Und, wenn wir die aktuelle Situation der Gesellschaft in den Kontext der Konsolidierung des neoliberalen Modells in Chile in den vergangenen 21 Jahren einordnen, dann hat die Bewegung der Pinguine ebenso wie andere Mobilisierungen im Bildungsbereich dazu beigetragen, die Krise aufzuzeigen, in der das Bildungssystem steckt. Daher haben große Teile der Gesellschaft heute eine klare Position dazu und unterstützen dadurch überwiegend die Forderungen nach kostenloser und hochwertiger öffentlicher Bildung.
Aktuell erfahren die Mobilisierungen internationale Unterstützung. Wie bewertet Ihr diese Verbreiterung? Hattet Ihr erwartet, dass die Bewegung so groß werden würde?
Camila Vallejo: Für die Bewegung bedeutet es ungeheuere Bestätigung, die vielen internationalen Unterstützungsaktionen zu sehen. Am Anfang hatten wir nicht erwartet, dass diese Bewegung Bedeutung über die Landesgrenzen hinaus haben würde. Es sind wirklich viele Dinge von historischer Bedeutung passiert. Dadurch und auch durch die Überzeugung, dass das Land unsere Forderungen braucht, ist es uns möglich, jeden Tag wieder Kräfte zu sammeln, um weiter zu kämpfen.
Gleichermaßen war es wichtig, dass in vielen Ländern sichtbar wurde, was hier in Chile wirklich passiert. Dass Chile sich weit entfernt hat vom Bild eines erfolgreichen Modells, wie es in den vergangenen Jahren im Ausland immer präsentiert wurde. Chile ist ein Land mit tiefgreifenden sozialen Ungleichheiten, mit einer sehr ungerechten Verteilung von Reichtum. Diese Bewegung hat die Unzufriedenheit vieler Chilen*innen aufgezeigt, die es leid sind, sich für ein Studium zu verschulden, keinen Zugang zu guter Bildung zu haben und die von vielen anderen Problemen gequält werden, die das Ergebnis des neoliberalen Modells sind.
Scheinbar fing alles an mit Forderungen nach besserer Bildung. Aber jetzt geht es eindeutig um andere gesamtgesellschaftliche und die Demokratie betreffende Forderungen. Was glaubt Ihr, worauf stützt sich diese Öffnung?
Camila Vallejo: Da wären mehrere Faktoren zu benennen, aber zwei scheinen mir besonders bedeutend: Der erste hat mit der Fähigkeit der Bewegung zu tun, verschiedene Akteure in die Bewegung einzubinden. Durch die Forderungen nach Bildung ist das möglich, denn für sehr große Teile der Gesellschaft hat ist sie von Bedeutung. Die massive Unterstützung der Leute auf der Straße, bei den Demonstrationen, bei den Cacerolazos, also dem Protest durch Schlagen auf Töpfe und Topfdeckel und auch in den Umfragen usw. verdeutlicht das.
Der zweite Aspekt hängt mit der Unnachgiebigkeit der Regierung zusammen, mit deren Unfähigkeit, auf die Forderungen der Bevölkerung nach grundlegenden Veränderungen im Bildungssystem angemessen zu reagieren. Deren Haltung und das Handeln der Regierung haben große Mängel des politischen Systems in Chile deutlich gemacht. Hier herrscht das System einer falschen Demokratie, das es zulässt, dass Forderungen, die von einer großen Mehrheit der Chilenen unterstützt werden, keinen Eingang in die öffentliche Politik finden. Unsere Gesetzgebung lässt es gegenwärtig nicht zu, dass Chilen*innen Entscheidungen in Bezug auf Fragen von großer öffentlicher und landesweiter Bedeutung etwa in Form von Plebisziten treffen.
Gleichzeitig mit den Demonstrationen begannen Repression und Misshandlungen. Eine Kampagne versucht, dies öffentlich anzuprangern. Wie ist die aktuelle Situation bezüglich der Repression?
Camila Vallejo: Die Regierung hat mit verschiedenen Strategien versucht, unsere Forderungen und die Bewegung zu delegitimieren und zu vernichten. Eine dieser Strategien war die Repression gegen uns. Die Bevölkerung hat dies ziemlich klar zurückgewiesen, durch die massive Teilnahme an Cacerolazos, Demonstrationen und Veranstaltungen, die wir organisiert haben.
Angesichts des starken und nicht aufzuhaltenden Anwachsens der Bewegung fährt die Regierung mit der Repression fort. Sie verhindert Demonstrationen auf den Hauptstraßen Santiagos. Sie lässt Attacken von Polizisten während Demonstrationen zu. Diese Form der Repression hatte ihren Höhepunkt am 4. August. Da schien Santiago im Ausnahmezustand zu sein. Zwei für diesen Tag angekündigte Demonstrationszüge konnten nicht stattfinden. In dieser Situation wurden Kampagnen gestartet, um die Polizeigewalt öffentlich zu machen, hieran arbeiten vorwiegend Anwälte und Jura-Studierende.
Aber die Bewegung war in der Lage, diesen Attacken standzuhalten und weiterhin immer mehr Menschen mit ihren Forderungen anzusprechen. Dabei behält sie den friedlichen Charakter ihrer Aktionen bei. Kürzlich haben wir mit chilenischen Künstlern, die uns unterstützen, ein Event für Familien im Park O’Higgins organisiert. Daran nahmen etwa eine Million Menschen teil.
Die Bewegung von Studierenden und Schüler*innen ist zu einem bedeutenden Bezugspunkt in der ganzen Region geworden. Diese Tatsache hatte ja auch schon Auswirkungen auf Verantwortliche, wie beispielsweise Minister. Wie wirkt sich diese Situation auf die Regierung von Sebastián Piñera aus?
Camila Vallejo: Die Auswirkungen auf die Regierung sind enorm. Die Zustimmung zur Regierungsführung des Präsidenten ist auf 26 Prozent abgesunken. Das ist ein historischer Tiefpunkt in den vergangenen 21 Jahren. Nicht weniger bedeutend war, dass der Präsident neun Vorsitzende verschiedener chilenischer Parteien zu einer Versammlung zum Thema der Bildungsproteste geladen hatte. Zu dieser Versammlung kamen aber nur zwei der neun geladenen Parteivertreter*innen – und zwar die aus seiner Regierungskoalition.
Mit vielen Informationen kann belelegt werden, dass die Regierung Sebastián Piñera absolut isoliert ist und weit entfernt von der Bevölkerung und deren Forderungen.
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