Die Risiken für Migrant*innen nehmen zu

(Lima, 31. März 2023, insightcrime).- Ein aktueller Bericht analysiert detailliert, wie das organisierte Verbrechen von der venezolanischen Migrationskrise auf unterschiedliche Weise wirtschaftlichen Profit geschlagen hat. Der Bericht, veröffentlicht von der Plattform für Interinstitutionelle Koordination für Geflüchtete und Migrierende (Plataforma de Coordinación Interagencial para Refugiados y Migrantes, R4V), macht auf die Gefahren aufmerksam, denen Geflüchtete und Migrant*innen in Südamerika und der Karibik ausgesetzt sind: Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Zwangsarbeit, Rekrutierung für bewaffnete Gruppen und brutale Gewaltverbrechen. InSight Crime sprach mit Chiara Marinelli, Wissenschaftlerin an der Pontificia Universidad Católica in Peru und eine der Verfasser*innen des Berichts, über die verschiedenen Formen, in denen venezolanische und Migrant*innen aus ganz Lateinamerika Opfer des organisierten Verbrechens werden.

Was sind die Hauptgründe, die die venezolanischen Geflüchteten so angreifbar für das organisierte Verbrechen machen?

Diese Menschen verlassen ihr Herkunftsland, das heißt, sie lassen ihre gesamte Lebensgrundlage zurück. Gleichzeitig haben sie viele Kosten auf der Reise– Essen, Kleidung, etc. – jedoch oft nicht die nötigen finanziellen Mittel dazu. Dies ist die erste Gelegenheit für das organisierte Verbrechen, sich an den Migrant*innen zu bereichern, indem sie ihnen (vermeintliche) Lösungen anbieten. Die Menschen sind auch aufgrund fehlender Alternativen vielen Risiken auf ihrer Reise ausgesetzt. Meist greifen sie auf das organisierte Verbrechen zurück, um Grenzen zu überqueren. Wenn weder Regierungen noch soziale Organisationen bereitstehen, nehmen sie letztendlich jedwede Möglichkeit der Grenzüberquerung an. Und der dritte Moment großer Verletzlichkeit ist, wenn sie an ihrem Ziel ankommen. Dort müssen sie sich ein neues Leben aufbauen. In den meisten Fällen gibt es aber kaum bis gar keine (Re)Integrationsprogramme; also bietet das organisierte Verbrechen ihnen Jobs an.

Wie hat das organisierte Verbrechen in Lateinamerika seit Beginn der venezolanischen Fluchtbewegung von dieser profitiert? Wie hat sich diese Situation über die Zeit verändert?

Die südamerikanischen Länder sind kein traditionelles Ziel der Migrant*innen. Deshalb waren die Regierungen nicht auf die Ankunft großer Gruppen vorbereitet. Aber die organisierte Kriminalität hat schnell Möglichkeiten der Ausbeutung erkannt. Die Art der Ausbeutung verändert sich je nach Land. In Kolumbien und Brasilien gibt es etwa eine höhere Präsenz des organisierten Verbrechens und nicht-staatlicher bewaffneter Gruppierungen. Die venezolanischen Migrant*innen wissen jedoch nicht, was genau dies nun in der Realität bedeutet. Sie kommen also vielleicht in Kolumbien an, wo man ihnen Arbeit in der Kokaernte anbietet. Sie nehmen die Arbeit an und denken, dass sie später immer noch gehen können – aber das können sie dann nicht mehr. Oder vielleicht lassen sie sich in einem Land nieder und eröffnen ein kleines Geschäft, aber bald werden sie erpresst. Der Schutz, der ihnen von Seiten der Regierung angeboten wird, ist sehr gering, da die betroffenen Länder einige dieser Problemsituationen nicht als solche anerkennen.

Wie hat sich die Pandemie auf den Menschenhandel, insbesondere mit venezolanischen Frauen und Mädchen, ausgewirkt?

Die erste große Migrationsbewegung aus Venezuela zwischen 2016 und 2017 bestand zum Großteil aus Personen der Mittelklasse mit besseren ökonomischen Ressourcen. Das hat dem organisierten Verbrechen den Zugriff auf diese Menschen erschwert, da sie als ganze Familien reisten und besser geschützt waren. Dann begannen aber auch finanziell schwächer gestellte Personen zu migrieren, die angreifbarer waren, und das wiederum erleichterte den kriminellen Gruppierungen die Ausbeutung und Rekrutierung. Diese ist eigentlich recht einfach, handelt es sich doch um Personen, die keine andere Wahl haben; sie beschweren sich noch nicht einmal bei staatlichen Stellen, weil sie denken, dass illegale Migrant*innen kein Recht dazu haben, und fürchten stattdessen die Deportation. Viele Frauen schicken einen Teil ihres Einkommens nach Venezuela. Ihre Familien dort wissen in der Regel nicht, dass sie ausgenutzt werden. Während der Pandemie konnten die Leute nicht reisen, aber das hat die Kriminalität nicht gestoppt. In Peru haben wir erfahren, dass sie angefangen haben, Frauen und Mädchen in privaten Wohnungen unterzubringen. Die Klienten haben sie in Autos abgeholt, sich ihrer bedient und zurück zur Wohnung gebracht. Prostitution als Überlebensstrategie ist ein großes Thema. Ich habe eine Studie in Kolumbien durchgeführt und herausgefunden, dass die Frauen, die in den von bewaffneten Gruppierungen oder den von der organisierten Kriminalität kontrollierten Gebieten arbeiteten, einen Teil ihrer Einkünfte abgeben mussten. Vielleicht haben sie freiwillig als Sexarbeiterinnen gearbeitet, aber in jedem Fall läuft nichts ohne die Kontrolle durch die Organisationen. Wir müssen bei den Untersuchungen zu diesem Thema sehr vorsichtig vorgehen, weil Sexarbeiterinnen und LGBTIQ-Personen eine sehr verletzliche Gruppe darstellen.

Wie unterscheidet sich dies von der Art und Weise, in der Männer und Jungen durch das organisierte Verbrechen ausgenutzt werden?

Niemand kennt die tatsächlichen Ausmaße der sexuellen und Arbeitsausbeutung von Männern, Heranwachsenden und Jungen. Es liegen nicht genügend Daten vor. Das Problem ist, dass wir nicht anerkennen, dass ein Mann Opfer von Menschenhandel werden könnte. Warum? Weil die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Mädchen das Stereotyp ist. Wenn die Polizei Einsätze durchführt, identifiziert sie die Männer nicht als Opfer. Zum Beispiel gehen sie in die Bergbaugebiete und finden dort Frauen und Mädchen, die sexuell ausgenutzt werden. Aber obwohl auch viele Männer und Jungen in der Mine als Opfer von Zwangsarbeit arbeiten, werden nur die Mädchen gerettet. Die Männer und Jungen werden auch in der Landwirtschaft ausgebeutet: auf Landgütern in Brasilien, auf Kokaplantagen in Kolumbien, Peru und Bolivien, und in allen Bergbauregionen. Man hat auch Berichte über die Ausbeutung von venezolanischen Migranten in Chile und Argentinien gefunden. Außerdem werden viele Männer und Jugendliche im Kontext des illegalen Bergbaus und des Holzhandels in der Amazonasregion ausgebeutet. Letztendlich rekrutiert das organisierte Verbrechen vor allem Männer und Jungen in gefährdeten Situationen. In dieser befinden sich die Venezolaner, die die Grenze nach Kolumbien oder Brasilien überqueren. Dort zwingt das organisierte Verbrechen sie dazu, selbst Verbrechen zu begehen. Und dann werden sie wegen dieser Verbrechen verurteilt, aber die Untersuchungen bleiben sehr oberflächlich, ohne die Situation in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Viele Jugendliche in Rehabilitationszentren wurden rekrutiert. Das Büro der Vereinten Nation für Suchtstoff- und Verbrechensbekämpfung (United Nations Office on Drugs and Crime – UNODC) und andere Organisationen setzen sich dafür ein, dass die Rekrutierung für verbrecherische Tätigkeiten als Menschenhandel anerkannt wird.

Wie ausgefeilt sind die kriminellen Gruppierungen, die da aktiv sind?

Es gibt grob gesprochen drei unterschiedliche Formen krimineller Gruppierungen. Die erste besteht aus traditionellen Gruppierungen, vor allem in Kolumbien oder Brasilien. Diese üben territoriale Macht aus und nutzen die Migrant*innen genauso aus, wie sie es auch mit den Bewohner*innen der von ihnen kontrollierten Gebiete machen. Allerdings kann es für sie günstiger sein, venezolanische Migrant*innen auszunutzen als Leute von dort. In Ländern wie Ecuador, Peru oder Bolivien gibt es viele Gruppierungen ohne Namen, und wenn sie doch einen haben, dann weil die Polizei ihnen einen gegeben hat. Sie sind nicht besonders gut organisiert, zumindest nicht die größeren Gruppierungen, aber sie sind Teil des kriminellen Spektrums. Und sie nutzen die Migrant*innen so aus, wie es gerade am günstigsten für sie ist, und Menschenhandel erfordert beispielsweise keine großen Investitionen. Und letztendlich sind noch die kleinsten Gruppierungen oder auch Einzelpersonen zu nennen. In Peru gibt es Familienbanden, die sich an kriminellen Geschäften beteiligen, bei denen zwei oder drei Personen Migrant*innen rekrutieren oder junge Frauen sexuell ausbeuten. Das ist eine Grauzone. Wenn hier jemand erwischt wird, ist es immer einfach zu behaupten: „Ich arbeite nur mit diesem Mädchen, sie wird nicht dazu gezwungen, Sex mit Klienten zu haben“.

Was könnten die Regierungen und Organisationen unternehmen, um zu verhindern, dass die Migrant*innen in die Hände des organisierten Verbrechens fallen?

An erster Stelle: Informationen anbieten. Der Großteil der Migrant*innen, nicht nur die Venezolaner*innen, sollten die Gefahren des organisierten Verbrechens kennen. An zweiter Stelle sollten die Regierungen allen gefährdeten Menschen Hilfen anbieten, und vor allem die Angebote für LGBTQI-Personen und für Männer und Jungen erweitern. Dies sollte eine langfristige und nachhaltige Arbeit sein. Es werden gemischte Gruppen von Sicherheitskräften benötigt, da das organisierte Verbrechen sich nicht nur auf eine Form der Kriminalität beschränkt. Der Menschenhandel führt auch zu geschlechtsspezifischer Gewalt, derer sich Spezialist*innen annehmen sollten. Es werden Personen benötigt, die mit dem Ziel, die kriminellen Strukturen anzugreifen, gegen den Drogenhandel oder das organisierte Verbrechen arbeiten. Und wir brauchen Spezialist*innen für Geldwäsche. Und letztendlich bleibt die Frage der Finanzierung: Wenn den Regierungen nicht genügend Gelder zur Verfügung stehen, helfen auch die besten Polizeikräfte nichts.

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