(Buenos Aires, 16. Mai 2024, El Salto).- In der Nacht zum Sonntag, dem 5. Mai, in einer Pension im Stadtteil Barracas im Süden von Buenos Aires, öffnete der Mieter Justo Fernando Barrientos die Tür seines Nachbarzimmers und warf einen selbstgebauten Sprengkörper auf die vier dort schlafenden Frauen. „Als sie aus dem brennenden Zimmer kamen, schlug er sie und stieß sie zurück ins Feuer“, berichtet einer der Zeugen gegenüber der Presseagentur Presentes. Pamela Cobas, eine 52-jährige Mutter, erlag Stunden später den Folgen ihrer schweren Verletzungen. Ihre gleichaltrige Lebensgefährtin Mercedes Roxana Figueroa wurde mit Verbrennungen an 90 Prozent ihres Körpers ins Krankenhaus eingeliefert, sie überlebte noch zwei Tage. Nach einem einwöchigen Kampf um den Tod starb auch Andrea Amarante am Sonntag, 12. September. 75 Prozent ihres Körpers waren durch Verbrennungen schwer verletzt. Nur Sofía Castro Riglos, 49, ist noch am Leben, sie liegt mit Gesichtsverletzungen im Krankenhaus. Mitte Mai sagte sie vor dem Richter Edmundo Rabbione aus, der den verschärften Mord an den drei Frauen untersucht. Rabbione ist stellvertretender Richter am Nationalen Strafgericht Nr. 14.
„Missgeburten”, “Tortas” (eine abwertende Bezeichnung für Lesben) und „gorda sucia” („fette Sau”) waren die Beschimpfungen, die der 67-jährige Mörder Barrientos seinen Opfern entgegenschrie. Er wurde von der Polizei in einem der Badezimmer der Pension mit einer Säge aufgefunden. Mit dieser hatte er sich zuvor selbst Verletzungen zugefügt. In der Vergangenheit kam es häufig zu Auseinandersetzungen zwischen dem Mörder und den Frauen, vor allem mit Pamela und Mercedes, die seit Jahren in dem Gästehaus lebten und zeitweise Freundinnen bei sich einquartierten. „Er hatte sie schon einmal bedroht. Das war letztes Weihnachten“, erinnert sich Diego Hernán Britez, ein Straßenverkäufer, der ebenfalls in der Unterkunft wohnte, im Gespräch mit Presentes, einem auf Themen der Gender- und geschlechtlichen Vielfalt spezialisierten Medienportal. „Er sagte, dass er sie beide umbringen würde, und nun sehen Sie, was passiert ist.”Der Fall von Andrea ist besonders erschütternd angesichts der Tatsache, dass sie eine Überlebende des Cromañón-Massakers war. Bei dem Brand in einer Diskothek in Buenos Aires am 30. Dezember 2004 starben 194 Menschen, als während einer Rockshow ein Feuer ausbrach. Andrea wurde weder in die 2005 von der Regierung der Stadt Buenos Aires erstellte Liste der Opfer aufgenommen, noch wurde sie in dem zwei Jahre später eingerichteten umfassenden Hilfsprogramm für die Opfer der Katastrophe berücksichtigt. Sie lebte auf der Straße, bis ihre Freundinnen sie aufnahmen.
Mileis Regierung schweigt über den Lesbizid
Trotz dieser Hintergründe griffen lokale Medien den Fall nicht auf, wie mehrere LGTBI+ Organisationen anprangerten. Erst nach dem Tod von Andrea gelang der dreifachen Lesbizid in die Nachrichtensendungen. Das Schweigen der Regierung unter Präsident Javier Milei über das den dreifachen Mord kam nicht überraschend. Ihre Gesetzesinitiativen sprechen für sich: Geschlechtergerechte Sprache wurde in der öffentlichen Verwaltung verboten, das Nationale Instutit gegen Diskriminierung, Xenophobie und Rassismus (Inadi) wurde aufgelöst, das von Mileis Vorgänger Alberto Fernández (2019-2023) geschaffene Ministerium für Frauen, Gender und Diversität abgeschafft und die von dieser Behörde geförderten öffentlichen Maßnahmen zurückgebaut. Erst in dieser Woche kam die Regierung nicht umhin, sich zum Angriff auf die vier Frauen zu äußern. „Ich definiere den Vorfall nicht gern als Angriff auf eine bestimmte Gruppe”, erklärte der Sprecher des Präsidenten, Manuel Adorni auf die Frage eines Journalisten. „Es erscheint mir unfair, nur über diesen Vorfall zu sprechen, wo doch Gewalt etwas viel Umfassenderes ist als lediglich ein Problem gegen eine bestimmte Gruppe.” Der Beamte beließ es es nicht bei seinen Erklärungen, sondern erteilte wenige Stunden später einer linken Abgeordneten, Romina del Plá, Grammatikunterricht. Diese warf ihm den Versuch vor, das Hassverbrechen von Barracas unsichtbar zu machen: Der Regierungssprecher hatte darauf hingewiesen, dass das Wort „Lesbizid“ nicht im Wörterbuch der Königlichen Spanischen Akademie eingetragen sei. Darauf erkannte die Sprachakademie die Gültigkeit des Neologismus an.
Hassereden der argentinischen Rechtsextremen gegen die LSBTIQ-Gemeinschaft
„Was hier passiert, ist eine Erlaubnis von Hassrede seitens oberster Stelle des Staates und dessen engsten Mitarbeitenden. Und das geschieht im Kontext einer globalen Vernetzung der extremen Rechten“, erklärt die Wissenschaftlerin, Soziologin und feministische Historikerin Dora Barrancos in einem Interview mit El Salto. Das Neue an der extremen Rechten in den vergangenen 20 Jahren „ist, dass sie den Kampf gegen die Gender-Ideologie, Schwulen- und Lesbenfeindlichkeit und Transphobie zu ihrem Programm gemacht hat“, so die ehemalige Beraterin für Gender-Fragen des Ex-Präsidenten Alberto Fernández. „In der Vergangenheit haben diese reaktionären Kräfte einzeln gehandelt. Ihre Stimmen waren wirr und nicht besonders laut. Sie hatten keine Chance, sich Gehör zu verschaffen, auch durch den enormen Wandel, den unsere Gesellschaft kulturell, sozial und rechtlich erfahren hat. Aber seitdem diese Kräfte Regierungsposten inne haben, wird eine Atmosphäre kreiert, in der die brutalsten Hassreden gegen sexuelle Minderheiten und Feministinnen erlaubt sind“, erklärt Barrancos. Es bestehe ein offenkundiger Widerspruch: Derselbe Staat, den Milei als eine „kriminelle Organisation” bezeichnet, „wird benutzt, um Stimmen zu verbreiten, die sich gegen grundlegende Menschenrechte richten”, so Barrancos, die auch für den Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (Conicet) arbeitet und dort zwischen 2010 und 2019 im Vorstand saß.
„Lesbizid“ – ein Hassverbrechen, das nicht im Wörterbuch steht
Barrientos bleibt wegen des Verbrechens an den drei Frauen in Haft. Indes muss der Richter, sobald die Schuldfähigkeit des Täters festgestellt wurde, entscheiden, ob erschwerende Umstände nach Artikel 80 des Strafgesetzbuches vorliegen. Diese kommen hinzu, wenn Verbrechen aus Hass gegen das soziale Geschlecht (Gender), die sexuelle Orientierung, die Geschlechtsidentität oder deren Ausdruck begangen wurden. „Zentral ist folgendes: Wenn Menschen mit derart makabren und klischeehaft patriarchalen Überzeugungen und gewalttätigen Handlungen nicht über ein Umfeld verfügen, das diese Einstellungen erlaubt und legitimiert, bleiben diese Personen im Verborgenen – aber sie können trotzdem handeln”, sagt Barrancos über den Dreifachmord. Im Jahr 2023 wurden in Argentinien 133 Hassverbrechen registriert, bei denen die sexuelle Orientierung oder der Geschlechtsausdruck als Grund für Angriffe angeführt wurde. Eine im Vergleich zu den Vorjahren erhöhte Zahl, so die Nationalen Beobachtungsstelle für LGBT+-Hassverbrechen, die von den Bürgerbeauftragten der Stadt Buenos Aires und der Nationalen Bürgerbeauftragten zusammen mit dem argentinischen LGBT-Verband (Federación Argentina LGBT) geleitet wird. Die diesjährige Statistik erfasst auch den Angriff auf Sabrina Bölke im März 2024. Sie ist Aktivistin der Menschenrechtsgruppe HIJOS (Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio, dt.: Söhne und Töchter für Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und Schweigen). Die junge Frau wurde in ihrer eigenen Wohnung von zwei Personen geschlagen, gefoltert und misshandelt, es kam zu Morddrohungen. An der Wand ihres Zimmers hinterließen die Täter die Abkürzung VLLC (Viva la libertad, carajo, dt. Es lebe die Freiheit, verdammt nochmal), den Slogan, mit dem Milei seine Reden schließt.
Im Vorfeld des Dreifachverbrechens von Barracas fand ein fragwürdiges Radiointerview mit dem Biographen und Freund des Präsidenten, Nicolás Márquez, statt. Dieser wurde der häuslichen Gewalt und des sexuellen Missbrauchs seiner eigenen Tochter beschuldigt, dafür aber freigesprochen. Seine im Interview schamlos homophoben und diskriminierenden Äußerungen sorgten für öffentliche Empörung. „Wir befinden uns an einem Scheideweg angesichts einer tiefgreifenden Störung des gängigen gesunden Menschenverstands, in einem Umfeld, das in seinen Formen und seiner sprachlichen Inkohärenz aus dem Esoterischen zu kommen scheint“, kommentiert die Historikerin. „Was wir beobachten, ist ein ideologisches Gefüge, das sich aus Intoleranz nährt und das wir kulturell als Faschismus bezeichnen, wobei nicht alle Eigenschaften erfüllt sind. Wir müssen also eine neue Kategorie erfinden. „Liberal” ist sie jedenfalls nicht.“
Transnationaler Hass
Zwei Männer dienten den ultrarechten Strömungen, die von Machtposten aus reaktionäre Erzählungen voller negativer Stereotypen verbreiten, als Hauptvorbilder: Donald Trump (2017-2021) in den Vereinigten Staaten und Jair Bolsonaro (2019-2023) in Brasilien. In Brasilien kam 2019 die Existenz eines „Hasskabinetts” ans Licht. Im Planalto-Palast, dem Sitz der Exekutive in Brasilia, war ein Team von Beamten unter der Leitung einer der Söhne des damiligen Präsidenten Bolsonaro für die Verbreitung von Falschnachrichten in den Medien und sozialen Netzwerken zuständig. Im Vorfeld der Wahlen, die der derzeitige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gewann, ereigneten sich inmitten des Wahlkampfs drei politische Verbrechen: Im Juli wurde der Stadtwächter und Schatzmeister der Arbeiterpartei (PT), Marcelo Arruda, auf seiner eigenen Geburtstagsfeier von einem Gefängniswärter, Jorge José Guaranho, erschossen. Der Täter stürmte in die Feier in Foz do Iguaçu, einer Stadt an der Grenze zu Argentinien und Paraguay, und rief: „Hier gehören wir zu Bolsonaro!”. Im September, im Vorfeld der Wahlen, erstach Rafael Silva de Oliveira, 24, in einem ländlichen Gebiet der Gemeinde Confresa im nordöstlichen Bundesstaat Mato Grosso einen Kollegen, Benedito Cardoso dos Santos, 44, und versuchte dann, ihn mit einer Axt zu enthaupten. Einige Tage später wurde ein 39-jähriger Mann namens Antonio Lima in einer Bar im Bundesstaat Ceará (Nordosten) erstochen, weil er sich als Lula-Wähler zu erkennen gegeben hatte. Zur Leugnungsrhetorik, die Bolsonaro immer wieder an den Tag legt, um sich von diesen Verbrechen zu distanzieren, kommt noch die Stigmatisierung bestimmter Gruppen. In seinem zweiten Wahlkampf bezeichnete Trump im vergangenen Monat Einwanderer*innen, die sich irregulär in der USA aufhalten, als „Tiere“ und „nicht menschlich“. Wie groß die Gefahr politischer Gewalt in den USA ist, zeigte sich im Januar 2021, als Trump-Befürworter das US-Kapitol stürmten, gerade als der Kongress den Wahlsieg des damaligen Präsidenten Joe Biden bestätigen wollte.
Kurzlebige Zukunft
Mit ihren 84 Jahren glaubt Barrancos, dass der scheinbare Umsturz des Staates nur von kurzer Dauer sein wird und dass er sich wahrscheinlich sogar selbst zerstört. Zu wahnhaft sei er, um von langer Dauer zu sein. „Wenn es etwas gibt, das Argentinien erlebt hat, dann sind es enorm schmerzhafte Phasen, auf die erfolgreiche und vergeltende Ausgänge folgen. Und diese finden im Sinne der Wiedererlangung einer Idee statt, die geschichtsübergreifend gültig ist: dass die soziale Gerechtigkeit ein außerordentliches Gut ist“, so ihre Vermutung. Ihrer Ansicht nach leidet Milei unter einem Größenwahn, durch den sich die Regierung den mächtigen Konzernen gebeugt hat. Es sind diese wirtschaftlichen Verflechtungen, die hinter den beiden großen Projekten der Regierung stehen: ein Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit, das weite Bereiche der Wirtschaft dereguliert, und dieLey Bases. Das Gesetz, das derzeit im Senat diskutiert wird, ermöglicht die Privatisierung öffentlicher Unternehmen, überträgt dem Präsidenten gesetzgeberische Befugnisse und fördert eine fragwürdige Investitionsregelung für Großunternehmen sowie eine rückwärts gerichtete Arbeits- und Steuerreform. Die Historikerin beobachtet Anzeichen, die die immer größer werdende Anspannung zeigen, unter der die Gesellschaft steht. Dazu gehören die beiden Generalstreiks, die die derzeitige Regierung in den ersten fünf Monaten ihrer Amtszeit konfrontierten, und die große Demonstration im April zur Verteidigung der öffentlichen Universitäten, die größte Demonstration der letzten Jahre. „Milei tut so, als würde er regieren, aber in Wirklichkeit regiert er in einer dystopischen, sich zuspitzenden, messianischen Situation. Wir müssen ihm sagen, dass er nackt ist. Eppur si muove – Und sie bewegt sich doch. Die Unruhe wächst in dem Maße, in dem er diesen Unsinn vorantreiben will“, so Barrancos abschließend.
Am Internationalen Tag gegen Homophobie, Biphobie und Transphobie riefen lesbische und feministische Gruppen aus dem ganzen Land zu Protesten auf, um auf das Hassverbrechen von Barracas aufmerksam zu machen. Der Aufruf wurde auf die Städte Madrid, Barcelona und Valencia ausgeweitet: Der Ruf nach Gerechtigkeit für den Angriff auf die vier argentinischen Frauen hat die Ländergrenzen längst überschritten.
Übersetzung: Angela Herz
Dreifacher Lesbizid in Buenos Aires. Hassreden zeigen Wirkung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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