„Unsere Großeltern sterben“ – ein Hilferuf aus dem Amazonas

(Berlin, 10. Mai 2020, npla).- Das Coronavirus schien in Kolumbien anfangs nur ein urbanes Phänomen zu sein. Tatsächlich wurde fast die Hälfte aller bisher bekannten 10.495 Infektionsfälle in der Hauptstadt Bogotá registriert. Die mediale Berichterstattung verstärkt nach wie vor die Wahrnehmung, dass es sich auf dem Land relativ sicher lebe. Erst der Tod des 75-jährigen Antonio Bolívar machte vielen Menschen bewusst, dass die Pandemie längst auch den Amazonas erreicht hat. Der Ocaina-Indígena wurde einem weltweiten Publikum im Jahr 2016 in der Rolle des Karamatake, Protagonist des vielbeachteten Spielfilms El Abrazo de la Serpiente, bekannt. „In seinem Wohnort Leticia nannten ihn alle ‚Großvater Bolívar‘“, erzählt Nelly Moniya Kuiri, Leiterin einer indigenen Schule für Kommunikation im Amazonas, im Interview mit poonal. „Bis zuletzt arbeitete er hier in Leticia bei uns als Berater mit und nahm selbst an Kursen teil. Abuelo Bolívar war einer der letzten, die Ocaina sprachen.”

Der wasserreichste Fluss der Welt bald ein „Corona-Highway“?

Am 2. Mai, einen Tag nach Bekanntwerden des vermutlich COVID-19-bedingten Todes von Bolívar in einem Krankenhaus in Leticia, informierte auch die landesweite Indigenen-Organisation Onic in einem Spezialreport erstmals detailliert über die Situation im kolumbianischen Amazonas. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 15 Infektions- und vier Todesfälle bei sechs verschiedenen Ethnien dokumentiert worden. Ein erhöhtes Risiko für eine weitere Ausbreitung bestehe vor allem in den 384 indigenen Gemeinden in der Grenzregion zu Brasilien, Ecuador, Panama, Venezuela und Peru. Als besonders gefährdet gilt dabei ein als „Amazonas-Trapez” bekanntes Gebiet, in dem auch Leticia liegt. Aktuelle Berichte zählen allein unter den 50.000 Einwohner*innen Leticias knapp 300 Infektionsfälle. Der Amazonas, der wasserreichste Strom der Erde, droht zu einem „Corona-Highway“ zu werden. Gemeinsam mit seinen Zuflüssen verbindet er virale Hotspots wie das peruanische Iquitos, wo bereits 1.595 Corona-Infektionen dokumentiert sind, oder die brasilianische Metropole Manaus, wo bereits über 5.000 Infizierte und über 400 Tote gezählt wurden. „Die öffentlichen Krankenhäuser waren bereits vor der Krise defizitär“, sagt Kuiri. Viele Menschen aus den indigenen Gemeinden scheuten den Besuch dieser Einrichtungen. „Zudem dürften die aktuellen Infektionszahlen längst viel höher liegen, da die Proben von Corona-Tests nach Bogotá geschickt werden, die Untersuchungsergebnisse aber erst zwei Wochen später vorliegen.“ Realistisch sei es nach Aussagen lokaler Ärzte, auch in Leticia bereits mit weit mehr als 1000 infizierten Menschen zu rechnen.

Mit den Großeltern stirbt das traditionelle Wissen der indigenen Gemeinden

Der kolumbianische Filmemacher und Politiker Hollman Morries verhalf in der vergangenen Woche indigenen Sprecher*innen zu Sendezeit in seinem landesweit empfangbaren Fernsehsender Tercer Canal, um mehr Kolumbianer*innen auf die kritische Situation im Amazonas aufmerksam zu machen. „Wir brauchen Unterstützung, denn wenn die Älteren zu früh sterben, die abuelos und abuelas, dann stirbt mit ihnen auch das traditionelle Wissen und die Kultur unserer Gemeinden“, so Kuiri. Gemeinsam mit indigenen Medienmachenden aus der Amazonasregion hat sie die Whatsapp-Gruppe ConetAmazonia-Originarios ins Leben gerufen, um insbesondere die indigene Bevölkerung besser zu informieren. Geplant sind außerdem der Aufbau eines Community-Radios in Leticia und die Produktion von Info-Podcasts.

Unterstützung willkommen

Wer die abuelxs in ihrem Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten von Deutschland aus unterstützen möchte, solle sich an der Spendenkampagne des Vereins indigener Amazonasfrauen Nimaira beteiligen, rät Kuiri. „So könnt ihr denen helfen, die von den staatlichen Institutionen bisher vergessen wurden. Es kommt nicht auf den Betrag an, sondern auf die Anzahl der Personen, die sich beteiligen!“

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