Tropenkrankheiten dringen in große Städte vor

von IHU – Instituto Humanitas Unisinos

(Fortaleza, 21. August 2012, adital-poonal).- Interview mit Carlos Henrique Nery Costa, Mediziner und Spezialist für Infektionskrankheiten und Präsident der Gesellschaft für Tropenmedizin in Brasilien (Sociedade Brasileira de Medicina Tropical).

 

Was ist unter Tropenkrankheiten zu verstehen, und welche sind in Brasilien am meisten verbreitet?

Die Definition der Tropenkrankheiten ist ziemlich weit gefasst. Es handelt sich um Krankheiten, die ausschließlich oder am häufigsten in den Tropen auftreten. Zu den wichtigsten Tropenkrankheiten der heutigen Zeit zählt Aids, das in Afrika aufkam. Es gibt weitere sehr ernst zu nehmende Tropenkrankheiten wie die Tuberkulose, die in einem engen Zusammenhang mit den prekären Lebensbedingungen in den großen Städten und den Favelas steht.

Die Malaria wiederum ist eine auf dem Land auftretende Krankheit, die durch Moskitos übertragen wird und heutzutage auf die Tropen beschränkt ist. Eine sehr schwerwiegende Krankheit, an der in Afrika zum Beispiel noch immer Tausende von Kindern sterben. Eine weitere, wieder verstärkt auftretende Tropenkrankheit, ist die Cholera, die sich dort entwickelt, wo es nicht einmal eine einfache Kanalisation gibt.

Die Verwundbarkeit der Menschen durch die Cholera ist sehr hoch. Sie forderte in Haiti in den vergangenen zwei Jahren über 10.000 Todesopfer. Es gibt viele weitere Tropenkrankheiten, Chagas etwa, eine durch blutsaugende Raubwanzen übertragene infektiöse Erkrankung und Parasitose, tritt sehr häufig in Brasilien auf. Bedroht sind stets die verwundbarsten Teile der Bevölkerung, in der Regel jene, die vom Staat verlassen wurden.

Einige Forscher*innen sprechen von einem Vordringen vieler typisch ländlicher Krankheiten in die Städte und in die Favelas. Das Gelbfieber zum Beispiel galt sogar schon als ausgerottet. Was passiert da?

Einige Phänomene können auch wir Wissenschaftler*innen noch nicht verstehen. Der erstaunlichste Fall unter den wieder neu aufkommenden Tropenkrankheiten ist die durch Sandmücken übertragene Leishmaniose, die in den Städten auftaucht. Dabei handelt es sich um eine bei Mensch und Tier vorkommende Infektionserkrankung, die Parasiten der Gattung Leishmania ausgelöst wird. 90 Prozent der Krankheitsfälle stammen aus den ländlichen Gebieten des brasilianischen Nordostens. Inzwischen hat sich die Leishmaniose aber auch in den großen Städten wie São Paulo, Belo Horizonte und Brasília ausgebreitet. Es ist nicht auszuschließen, dass sie sogar Buenos Aires erreichen wird.

Wir wissen zwar noch nicht, was genau hinter dieser Ausbreitung der Tropenkrankheiten steckt, was wir aber wissen ist, dass das Phänomen in einer bestimmten Weise mit der Überbevölkerung im Zusammenhang steht. In den Favelas leben Menschen auf engstem Raum zusammen, es gibt keine Kanalisation. Krankheiten wie die Tuberkulose haben hier leichtes Spiel.

Viele Wissenschaftler*innen betonen, dass Brasilien das Problem der Tropenkrankheiten ohne einen Abbau der sozialen Ungleichheiten nicht lösen wird.

Ja, es ist schon erstaunlich, dass Brasilien sich für grundlegende soziale Fragen nicht interessiert. Die Menschen, die in den Favelas leben, werden vom Staat vollständig marginalisiert. Ich weiß nicht, warum der Staat nicht investiert und die hygienischen Bedingungen verbessert.

Es gibt einen Bevölkerungsüberschuss, den die Industrie nicht aufzunehmen in der Lage war. Es gibt nicht Beschäftigung für alle, und der Staat ist nicht hinreichend stark, um hier Abhilfe zu schaffen und die Bevölkerung zu schützen. Was allerdings nicht nur die Realität Brasiliens ist. Dasselbe passiert in Jakarta oder Nairobi.

Eine wirtschaftliche Globalsierung hat stattgefunden, ohne dass sie von einer sozialen Globalisierung begleitet wurde. Das Kapital sucht ein Umfeld, das billige Arbeitskräfte bietet. Die Lebensbedingungen der Arbeiter*innen interessieren nicht.

Brasilien muss in eine Politik investieren, die auf das schwerwiegende Problem der Gesundheit in den Favelas zielt. Neben den Tropenkrankheiten ist es ja auch die Luftverschmutzung in den großen Städten, die zahlreiche gesundheitliche Probleme verursacht.

Wie geht Brasiliens Gesundheitssystem das Problem der Tropenkrankheiten an? Wird es vernachlässigt?

Es wird zwar versucht, den Tropenkrankheiten vorzubeugen, aber derzeit werden sie doch noch ziemlich vernachlässigt. Die Pharmaunternehmen der Industriestaaten haben kein Interesse an jenen Krankheiten, die in relativ geringer Zahl auftreten, in entlegenen Ländern, und von denen Arme betroffen sind. In Brasilien gilt die größte Sorge vor allem zwei Tropenkrankheiten: dem Dengue-Fieber und der Leishmaniose. Beide breiten sich aus, und es besteht derzeit keine Perspektive, sie in den Griff zu bekommen.

Es gibt zwar Impfstoffe, die vielleicht auch einen gewissen Erfolg haben, aber festzustellen bleibt, dass die traditionelle Lösung nicht funktioniert hat: Nämlich die Menschen dazu zu erziehen, sich von Dengue-Quellen fernzuhalten. An Leishmaniose sterben jedes Jahr 200 bis 250 Menschen.

Es gab und gibt zwar in Brasilien Anstrengungen, die Tropenkrankheiten auszurotten, doch fallen diese eher schüchtern aus. Gerade im Vergleich mit China, das sich dieses Problems bereits vor 40, 50 Jahren entledigt hat. Brasilien ist nach wie vor ein Land, das nachlässig mit seiner eigenen Bevölkerung umgeht. Ein reiches Land mit einem armen Volk. Investitionen in Gesundheitserziehung oder Abwasserentsorgung würden der Vorbeugung gegen Tropenkrankheiten klar nützen.Wichtig wäre auch ein interdisziplinäres Vorgehen der auf unterschiedliche Gebiete spezialisierten Mediziner*innen gemeinsam mit Urbanist*innen, Soziolog*innen, Architekt*innen und Anthropolog*innen.

Brasilien könnte als das Land mit der fünftgrößten Bevölkerung der Welt eine Vorreiterrolle in der Bekämpfung der Tropenkrankheiten übernehmen. Es verfügt hierfür über die technologischen Voraussetzungen. Bislang stammt alles Wissen über die Tropenkrankheiten und ihre Behandlung aus dem Norden, aus den reichen Ländern. Länder wie Brasilien, Mexiko und Indien könnten sich zusammenschließen, um gemeinsam die Tropenkrankheiten zu erforschen.

Brasilien könnte die tropischen Länder kulturell einen. Diese Wiederaneignung der Tropen durch die Tropen ist von grundlegender Bedeutung. Denn bis zum heutigen Tage sehen wir uns die Tropen durch den Spiegel des Nordens an. Wir müssen die Probleme aber mit unserer eigenen Optik angehen und versuchen, angemessene Lösungen für unsere Realität zu finden.

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