Von Wolf-Dieter Vogel
(Caracas-Mexiko-Stadt, 14. Oktober 2017, npl).- Die sozialistische Regierung von Venezuela legte einst großen Wert auf eine gute Krankenversorgung. Doch inzwischen fehlt für Medizin und Ausrüstung das Geld. Das Gesundheitssystem des Landes kollabiert. Medikamente für die Chemotherapie? Sieht schlecht aus. Blutkonserven? Haben wir keine. Schmerzmittel? Gibt es nicht. Gabriel Romero läuft von einem Raum zum nächsten, und überall bekommt er dieselbe Antwort. Egal, was der Krebsarzt sucht, es mangelt an allem. „ Gestern zum Beispiel gab es zunächst keine sterilen Handschuhe für die OPs“, sagt er. Erst um zehn Uhr seien ein paar wenige angekommen. „Anstatt zehn konnten wir nur drei Personen operieren.“
Die Hälfte aller Operationsäle in öffentlichen Krankenhäusern geschlossen
Jeder Tag vergeht so, erklärt der Mediziner, während er durch die langen Flure der Krebsklinik Luis Razetti schreitet. Hunderte Patient*innen kommen jeden Tag in das in Caracas gelegene Krankenhaus. Dutzende Männer und Frauen sitzen in den Gängen und blicken den Doktor hoffnungsvoll an. Kann er ihre Krankheit heilen? Kann er zumindest ihr Leiden lindern?
Doch Romero und sein Team sind selbst verzweifelt. Jeden Tag müssen sie aufs Neue improvisieren, damit zumindest die Hoffnung nicht stirbt. Schon lange funktioniert der Apparat für die Bestrahlung nicht mehr, und mit einer Chemotherapie ohne adäquate Medizin können die Onkolog*innen einen Krebstumor bestenfalls bremsen.
Nur wer die nötigen Medikamente im Nachbarland erwerben kann, hat eine Chance auf Heilung. „Wenn Patienten mit Darmkrebs kommen, müssen wir ihnen empfehlen, nach Kolumbien zu fahren“, berichtet die Ärztin Diana Reida. Nur wenn die Kranken die nötigen Dollars für die Arznei hätten, könnten sie behandelt werden. Aber viele Patient*innen seien so arm, dass sie nicht an Dollars kämen, sagt die Onkologin. „Die müssen zuschauen, wie der Krebs langsam voranschreitet und werden einfach sterben.“
Nicht nur im Krankenhaus Luis Razetti herrscht Notstand. „So wie hier sieht es im gesamten Gesundheitssystem aus“, kritisiert Doktor Romero. „Für die Patienten mit Niereninsuffizienz gibt es keine Filter für Dialysen. Bei Organtransplantationen gibt es keine Arznei für den Fall, dass der Körper das Organ abweist. Auch Menschen mit Herzproblemen erhalten keine Medikamente.“
Die Zahlen sprechen für sich: Fast die Hälfte aller Operationsäle der öffentlichen Krankenhäuser ist geschlossen. Laut der Weltgesundheitsorganisation fehlen in Venezuela zwei Drittel der nötigen Medikamente. Und das Gesundheitsministerium ließ jüngst wissen, dass die Müttersterblichkeit allein zwischen 2015 und 2016 um 65 Prozent und die Kindersterblichkeit um ein Drittel gestiegen ist. Auch die Malariaerkrankungen haben exorbitant zugenommen.
Von der großartigen „Mission Barrio Adentro“ ist nur noch wenig übrig
Dabei stand die Krankenversorgung einmal ganz oben auf der Agenda der sozialistischen Regierung. Zahlreiche Reformen sollten vor allen der armen Bevölkerung genügend Ärzte, Medizin und Krankenhäuser zur Verfügung stellen. Die Mission Barrio Adentro schuf im letzten Jahrzehnt unter der Regierung des mittlerweile verstorbenen Staatschefs Hugo Chavez 6000 Gesundheitszentren, in denen umsonst behandelt wurde. Tausende kubanische Ärztinnen und Ärzte unterstützten das sozialistische Bruderland.
Doch von all dem ist wenig geblieben: Nach Angaben der Medizinischen Föderation Venezuelas wurden vier von fünf dieser Stationen inzwischen dicht gemacht, weil Personal und Instrumente fehlen. Viele Kubaner*innen sind längst wieder weg. Davon unbeeindruckt erklärte Präsident Nicolás Maduro noch im April dieses Jahres: „Venezuela hält einen Weltrekord: Es ist das Land mit der weltweit zweitbesten primären Krankenversorgung.“ Das scheine jedoch international keine Meldung wert zu sein“, kritisiert der Staatschef und betont: „Das Wichtigste ist, dass das Volk Liebe, Betreuung, Aufmerksamkeit und Hilfe erfährt.“
Kein Geld für den Import von Arzneimitteln
De facto ist jedoch kein Geld da, um Arzneimittel aus dem Ausland zu importieren. Seit der Ölpreis auf dem Weltmarkt immens gesunken ist, fehlen dem erdölexportierenden Venezuela die Devisen. Sowohl Chavez als auch sein Nachfolger Maduro hielten an einer Wirtschaftspolitik fest, die fast ausschließlich auf den Verkauf des schwarzen Goldes ausgerichtet war. Folglich fehlen nun die Dollars, um das Gesundheitssystem zu finanzieren. Auch die Kapazitäten, um im Land selbst Medizin herzustellen, sind gesunken.
Der Leiter der Menschenrechtsorganisation Provea Rafael Uzcáteguí verweist auf Fehler, die bereits zu Chavez` Zeiten begangen wurden. Der produktive Sektor sei fast verschwunden, und damit auch die Laboratorien, in denen Medizin hergestellt wurde. „Das ist auf Entscheidungen zurückzuführen, die die Regierung gefällt hat, als wegen des hohen Ölpreises noch viel Geld in der Staatskasse war“, erläutert er. Damals sei alles in anderen Ländern gekauft worden, was gebraucht wurde, um kurzfristig Projekte durchführen zu können.
Künstlicher erzeugter Mangel zur Destabilisierung des Landes?
Fragt man jene, die weiterhin hinter der Regierung Maduro stehen, nach den Gründen für den medizinischen Notstand, sind die Schuldzuweisungen eindeutig: Die privaten Unternehmen hätten einen Wirtschaftskrieg angezettelt, um die revolutionäre Bewegung zu destabilisieren, sagen sie. Unterstützt von ausländischen Mächten, in erster Linie von den USA, würden die Kapitalist*innen gezielt einen Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten provozieren. Die Opposition macht dagegen die regierenden Sozialist*innen für die katastrophale Lage verantwortlich.
Bereits im Januar vergangenen Jahres beschäftigte sich das von Oppositionellen dominierte Nationalparlament mit dem medizinischen Notstand. Ausführlich berichtete dort ein Vater, wie sein dreijähriges Kind an Lungenkrebs starb, weil die nötige Arznei fehlte. Danach verabschiedeten die Abgeordneten ein Gesetz, das dem Staat eine humanitäre Krise im Gesundheitsbereich konstatierte. Unter anderem sollten internationale Hilfslieferungen ins Land gelassen werden.
„Wo stehen wir jetzt? Das tut sehr weh.“
Doch der stets Maduro-treue Oberste Gerichtshof erklärte das Gesetz für verfassungswidrig. Deshalb spielte die prekäre Krankenversorgung auch bei den Demonstrationen, mit denen die Opposition im letzten halben Jahr mobil machte, eine große Rolle. „Eine der Forderungen bei den Protesten bestand darin, dass die Regierung anerkennt, dass sich das Land in einer humanitären Krise befindet“, sagt Menschenrechtsaktivist Uzcátegui. Die Regierung müsse akzeptieren, dass sie alleine nicht in der Lage sei, die Situation in den Griff zu bekommen. Sie müsse durch internationale Kooperation garantieren, dass die Bevölkerung kurzfristig mehr Lebensmittel und Medizin bekomme.
Maduro weigert sich allerdings bis heute, solche Hilfsleistungen anzunehmen. Damit begeht die Führung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung. Schließlich schreibt der Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vor: Eine Regierung muss alles in ihrer Kraft steckende dafür tun, um ihrer Bevölkerung eine adäquate Gesundheitsversorgung zu garantieren.
Zurück in der Krebsklinik Luis Razetti. Auch dort stellt sich ständig die Frage, wie es weitergehen soll. So jedenfalls nicht, sagt Diana Reida. Für die Ärztin ist jeder Arbeitstag zu einer unglaublichen Herausforderung geworden. „Der Patient schaut dich an und fragt: Wann werde ich sterben? Das ist sehr schwer auszuhalten“, erklärt sie. Ja, eigentlich sei sie stolz auf ihr Land, das die nötigen Ressourcen und die besten Onkolog*innen habe. „Wir könnten eine sehr gute Behandlung bieten“, sagt die Ärztin. „Doch wo stehen wir jetzt? Das tut sehr weh.“
Den Audiobeitrag bei Radio Onda findet ihr hier.
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