Von Thomas Guthmann
(La Paz, 13. September 2016, npl).- Fünf Monate lang protestierten Menschen mit Behinderung für ihre Rechte in La Paz. Gekommen sind sie mit einem Protestmarsch von Cochabamba in die Hauptstadt. Jetzt mussten sie ihren Protest aufgeben. Ihre zentrale Forderung, eine Rente der Würde zu erhalten, konnten sie nicht gegen die Regierung durchsetzen.
Alex Vazquez ist ein stämmiger Mann. Er macht den Eindruck, als ob er nicht leicht aus der Fassung zu bringen ist und mit jeder Situation fertig werden kann. Jetzt sitzt er in einem Café, rührt in seinem Kaffee Americano, blickt nach unten und ringt mit den Tränen. Soeben haben er und seine Mitstreiter*innen beschlossen, die Mahnwache aufzugeben, mit der sie seit über 90 Tagen am Regierungssitz La Paz versuchten, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ihr zentrales Anliegen, für Menschen mit Behinderung eine Rente von 500 Bolivianos, etwa 65 Euro zu bekommen, scheiterte. Die Regierung von Präsident Evo Morales hatte in den vergangenen Monaten immer wieder klargemacht, dass sie sich auf diese Forderung nicht einlassen wird.
Regierung ignoriert Proteste
Im Februar rollten und humpelten Rollstuhlfahrer*innen, Personen mit Gehbehinderung, spastischer Krankheit, und andere Menschen mit Einschränkungen von Cochabamba los. 36 Tage später kamen sie in La Paz an. Dort errichteten sie zuerst vor dem Präsidentenpalast eine Mahnwache, die später von der Bereitschaftspolizei in die Seitenstraßen abgedrängt wurde. Mit Wasserwerfern und Tränengas ging sie gegen die Aktivist*innen vor. Wochenlang war die Plaza Murillo, an dem sich der Präsidentenpalast befindet, mit meterhohen Metallzäunen abgesperrt. Wer eine offensichtliche körperliche Einschränkung hatte, wurde von den Bereitschaftspolizisten nicht durchgelassen.
Alex Vasquez und seine Mitstreiter*innen ließen sich davon nicht einschüchtern. Die Bevölkerung von La Paz und El Alto spendete Lebensmittel, Kleidung und Campingzubehör. So campierten Menschen mit Behinderung wochenlang in den Seitenstraßen des Regierungssitzes. „Es ist sichtbar geworden, wie wir aufs Klo gehen, wie wir uns waschen, welche Probleme wir mit den Barrieren haben“, erklärt Alex Vasquez. Die Regierung antwortete nun mit einer Kampagne in Funk und Fernsehen auf die Proteste. Man sah mal Präsident Evo Morales, mal den Vizepräsidenten, wie sie eine Rehabilitationseinrichtung eröffneten oder eine Schule einweihten. Immer bedankten sich Menschen mit Behinderung in den Werbeclips artig.
Staatliche Rente reicht nicht aus
Auf dem Papier ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung beschlossene Sache. 2012 verabschiedete die Regierung ein entsprechendes Gesetz. Bereits davor hatte die Regierung einen Fonds für Menschen mit Behinderung eingerichtet. 40 Millionen Bolivianos stehen dort jährlich für Maßnahmen zur Verfügung, die Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft integrieren sollen. Aus diesem Fonds wird bereits eine Rente finanziert, die sich auf 1.000 Bolivianos im Jahr beläuft. „Viel zu wenig“, moniert Alex Vasquez, „das sind 2,70 Bolivianos am Tag. Da viele Menschen mit Behinderung vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, benötigen wir einen höheren Betrag“.
Das Forschungsinstitut CEDLA gibt Vasquez in einem Bulletin recht. Lediglich ein Prozent der Beschäftigten in Bolivien, so CEDLA, sind Menschen mit einer Behinderung. Das Gesetz, das 2012 zur Inklusion von Menschen mit Behinderung verabschiedet wurde, sieht bei Unternehmen im öffentlichen Sektor eine Quote von vier Prozent vor. Die meisten Menschen mit Behinderung werden jedoch im privaten Sektor, in Familienbetrieben beschäftigt. Die großen Unternehmen drücken sich bisher erfolgreich darum, auch, weil es bis jetzt keine wirksamen Sanktionsmechanismen gibt. Ähnlich prekär ist die Lage für Menschen mit Behinderung im Bildungssektor. Ein Drittel der Menschen mit Behinderung geht nicht zur Schule und lediglich drei Prozent schaffen einen höheren Bildungsabschluss. Selbst wenn dieser erreicht ist, ist nicht garantiert, dass sie eine Beschäftigung erhalten.
José Hidalgo, der ebenfalls zu den Protestierenden gehörte, hat es wie Vazquez geschafft gegen alle Widerstände Jura zu studieren. Dennoch ist er bis heute ohne Job: „Trotz meines Hochschulabschlusses finde ich keine Arbeit, immer wieder höre ich die gleichen Argumente, wie ´du kannst hier nicht arbeiten, unser Büro ist im zweiten Stock´. Fehlende Barrierefreiheit in den Gebäuden engt uns oft ein.“ Mangelnde Barrierefreiheit in der Gesellschaft, sowohl mental als auch materiell, führt dazu, dass Menschen mit Behinderung immer wieder ins Abseits geraten.
Viele Barrieren trotz Inklusionsgesetz
Gesetze alleine reichen nicht. Das wird deutlich, wenn man sich in La Paz bewegt. Nicht nur die Hochgebirgslage der Stadt mit ihren Steigungen erzeugt jede Menge physische Barrieren für Menschen mit Behinderung, sondern auch ein Großteil der Infrastruktur ist überhaupt nicht auf Personen mit körperlicher Einschränkung ausgerichtet. Überall behindern hohe Bordsteinkanten, Minibusse und Treppen ein barrierefreies Fortkommen. Als ich mich mit Alex Vasquez im Café treffe, müssen wir erst mal eine 30 Zentimeter hohe Stufe überwinden, um in die Lokalität zu gelangen.
Unüberwindlich schienen auch die Hürden, um mit der Regierung in den Dialog zu gelangen. Evo Morales, der seit dem knapp verlorenen Referendum im Februar sichtbar dünnhäutig auf Proteste aus der Bevölkerung reagiert, sprach gar in einem Moment von einer Verschwörung der Menschen mit Behinderung. „Es geht uns nicht darum, gegen die MAS vorzugehen, sondern darum, Rechte einzufordern und eine bessere Gesellschaft zu schaffen“, hält Vasquez dem Präsidenten entgegen. „Es kann nicht sein, dass Maßnahmen ergriffen werden, die nicht mit uns, den Betroffenen abgesprochen sind“, fügt er hinzu.
Ein gutes Beispiel sei der bereits eingerichtete Fonds der Regierung Morales. Obwohl gut gefüllt mit jährlich über fünf Millionen Euro, profitieren von den Maßnahmen bisher lediglich rund 600 Menschen mit Behinderung. „Viel zu wenig“, meint Vasquez, und eine Folge der Nicht-Einbeziehung der Betroffenen, wie er meint. Die Folge sei, dass Gelder versickern oder ineffizient eingesetzt werden.
„Die Bevölkerung hat verstanden, die Regierung noch nicht“
Eines hat der aktuelle Protestzyklus erreicht. „Wir sind sichtbar geworden“, meint Vasquez, „und die Bevölkerung hat verstanden, was unsere Bedürfnisse sind, die Regierung noch nicht“. Die Mahnwache wurde aufgegeben, weil die Versorgung der Protestierenden immer schwieriger wurde. Der würdige Abgang war möglich, weil David Tezanos Pinto, Ombudsmann für Menschenrechte, eine Brücke zu den Protestierenden baute. „Er hat uns eine würdige Beendigung der Proteste ermöglicht. Die gesundheitliche Lage von vielen Protestierenden verschlechterte sich und wir kamen in den Verhandlungen mit der Regierung nicht voran“. Die Vereinbarung mit der Ombudsstelle für Menschenrechte sieht vor, dass die Menschen mit Behinderung in einem Dialog mit David Tezanos Pinto treten. Zur Einigung gehört, dass bei der Ombudsstelle eine Abteilung für die Rechte von Menschen mit Behinderung eingerichtet wird. Vasquez sieht hier einen Weg, auf einer anderen Ebene die Forderungen zumindest teilweise durchzusetzen. Die neue Abteilung der Ombudsstelle soll endlich Sanktionsmechanismen für Unternehmen einrichten, die die im Gesetz vorgesehene Quote von vier Prozent nicht erfüllen.
Den Audio-Beitrag zu diesem Artikel findet ihr hier.
„Durch die Proteste sind wir sichtbar geworden“ – Menschen mit Behinderung fordern Rente der Würde von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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