Ausrufung des nationalen AIDS-Notstands gefordert

von Alicia Yolanda Reyes, Mexiko-Stadt

(Berlin, 08. Juli 2008, poonal-semlac).- „Investitionen im Bereich HIV/AIDS finden in Mexiko fast nicht statt”, so die Einschätzung der Ärztin Patricia Campos, Vorsitzende der Hilfsorganisation AIDS Healthcare Foundation in Mexiko. Die Anzahl von Personen, die antiretrovirale Medikamente (ARVs) benötigen, werde daher in den kommenden Jahren steigen. Zur Zeit müsse in Mexiko das Doppelte bis Vierfache für AIDS-Medikamente bezahlt werden als in den anderen Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Würden die Preise nicht gesenkt, könne das Land nicht mehr den universellen Zugang für alle Personen gewährleisten, die ARVs zur Aufrechterhaltung ihres Immunstatus benötigten.

Die AIDS-Expertin warnte, dass die Regierung in knapp drei Jahren die Versorgung mit den Medikamenten nicht mehr für alle Betroffenen gewährleisten könne, sollte es keine Verhandlungen über die Preise geben. Um auf das Thema aufmerksam zu machen, hatten bereits im Juni etwa 150 Aktivist*innen eine öffentlichkeitswirksame Demonstration mit Kundgebungen vor den Ministerien für Wirtschaft und für Gesundheit durchgeführt und dort einen Forderungskatalog präsentiert.

Die wichtigste Forderung ist die nach der Ausrufung des nationalen Notstandes wegen der Bedrohung durch AIDS. Die Maßnahme würde es ermöglichen durch Verhandlungen die Preise an die mexikanische Realität anzupassen. Multinationale Pharmakonzerne betrachten Mexiko als ein Land mit mittleren Einkommen. Mit der Parole „In Mexiko kann man mit AIDS-Medikamenten verrecken“, forderten die Demonstrant*innen die Regierung zum Handeln auf.

Die Vergabe von ARVs an Betroffene war vor drei Jahren beschlossen worden. Zur Zeit kommen etwa 38.000 Infizierte in den Genuss der Therapie. Die Behandlung ist entweder über die Sozialversicherung abgedeckt oder erfolgt, wenn Betroffene nicht versichert sind, in den Krankenhäusern des Gesundheitsministeriums.

Bislang haben die mexikanischen Behörden sich bei den Verhandlungen und dem Kauf von Generika auf den nordamerikanischen Freihandelsvertrag NAFTA berufen, der die Multis unter besonderen Schutz stellt. Der Vertrag schreibt den gegenseitigen Ankauf von Waren zwischen den Mitgliedern Mexiko, USA und Kanada vor – theoretisch zu fairen Preisen. In der Praxis verhindert er, dass Mexiko Medikamente in anderen Ländern kaufen oder gar Generika selbst herstellen kann.

Patricia Campos, die zwölf Jahre lang der AIDS-Präventionsbehörde im Bundesstaat Jalisco vorstand, meint jedoch, der NAFTA-Vertrag billige den einzelnen Staaten die Flexibilität und Kompetenz zu, die öffentliche Gesundheit der eigenen Bevölkerung zu schützen und zu verteidigen. Zudem werde NAFTA von den Regelungen der Welthandelsorganisation WTO bestimmt, und diese sprächen etwa bei Patenten eine klare Sprache. Haben arme Länder keine eigene Pharmaindustrie, dürfen sie nach Ausrufung des nationalen Notstands andere Länder beauftragen, patentgeschützte Medikamente nachzubauen und billiger zu exportieren. Ein solches Abkommen wurde unlängst zwischen Ruanda und Kanada geschlossen.

Nach Angaben von Campos zahlt Mexiko einen überhöhten Preis, der teilweise 200 bis 400 Prozent über dem anderer Länder, wie Honduras, Nicaragua, El Salvador oder Brasilien, liege. Brasilien, wo Generika 40 Prozent der verwendeten ARVs ausmachen, konnte seine Verhandlungsposition deutlich stärken, da es die Medikamente für seinen Bedarf selbst herstellen könnte, sollten die Pharmakonzerne den Preis nicht senken.

Eines der größten Probleme in Mexiko sei die unzureichende Planung der insgesamt benötigten Mengen an ARVs, so Campos. Die fehlende Voraussicht erhöhe die Behandlungskosten. So berechne etwa das Mexikanische Sozialversicherungsinstitut IMSS (Instituto Mexicano del Seguro Social), das rund die Hälfte der Betroffenen versorgt, jedes Jahr die Bestellungen falsch. Wenn am Ende des Jahres die zu gering kalkulierten Vorräte zur Neige gingen, müsse jedes Mal dort nachgekauft werden, wo die Medikamente gerade lieferbar seien. Der Preis sei dadurch um ein Vielfaches höher, als der, der vom Gesundheitsministerium erstattet werde. Im Institut für Soziale Sicherung und Leistungen für Beschäftigte im Staatsdienst ISSSTE (Instituto de Seguridad y Servicios Sociales de los Trabajadores del Estado) fänden ähnliche Fehlplanungen statt. Die Auswirkungen seien jedoch weniger spürbar, da die Versicherung nur für zehn Prozent der HIV/AIDS-Patient*innen mit ARV-Bedarf zuständig sei.

AIDS-Aktivist*innen vermuten, der Nachkauf zu überhöhten Preisen hänge mit der Ausnutzung der Situation durch einige der für den Einkauf zuständigen Staatsbediensteten zusammen. Dies nachzuweisen sei jedoch unmöglich, da die Betreffenden sehr darauf bedacht seien, keine Spuren zu hinterlassen. Luis Soto, ebenfalls Mediziner und Kopräsident der Welt-AIDS-Konferenz 2008, die vom 3. bis zum 8. August in Mexiko-Stadt tagt, wies darauf hin, dass die Pharmakonzerne Ärzte und Staatsangestellte im Gesundheitswesen mit Reisen, Computern und Einladungen zu Kongressen für das Verordnen ihrer Produkte belohnten, wodurch die Kosten der Medikamente stiegen. Soto und Campos stimmen darin überein, dass durch den Wegfall solcher Vergünstigungen der Preis der Medikamente zum Wohle der Patient*innen halbiert werden könnte.

Campos ist davon überzeugt, dass die Konferenz eine gute Gelegenheit für die lateinamerikanischen Staaten sei, sich über erfolgreiche Strategien – wie die Brasiliens – auszutauschen. Denkbar sei auch ein gemeinsames Verhandeln über Preise für die ganze Region. Man müsse die Chancen nutzen, wenn die Augen der Welt auf Mexiko gerichtet seien.

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