von José Luís Fiori
(Quito, 05. November 2009, alai).- Nachdem die letzte Dekade in Südamerika durch die neu erstarkte Linke geprägt gewesen ist, steht dem Kontinent eine Zeit starker Turbulenzen bevor. Während Ende 2009 in Uruguay mit José Mujica ein Mann des Volkes und ehemaliger Guerilla-Kämpfer zum Präsidenten gewählt wurde, ist in Chile mit Sebastián Piñera ein arroganter, rechtskonservativer Politiker an die Macht gekommen, dessen Auftreten an den italienischen Premierminister Silvio Berlusconi erinnert. Zur gleichen Zeit steht die Wiederwahl der Präsidenten Boliviens und Ecuadors auf dem Spiel, die radikale sozialistische Änderungen am Gemeinwesen und an den Besitzverhältnissen ihrer Länder durchsetzen wollen, ohne einen revolutionären Bruch zu riskieren. 2010 wird es Wahlen in Kolumbien und Brasilien, 2011 in Peru und Argentinien geben.
Das anhaltende Wachstum der Weltwirtschaft in den letzten zehn Jahren hat den Wandel in Südamerika begünstigt, und darüber hinaus politische Integrationsprozesse beschleunigt. Doch die Weltwirtschaftskrise von 2008 hat dieses Wachstum und damit auch das Projekt der wirtschaftlichen Integration Südamerikas gebremst. Die politische Integration wiederum wird durch das neue Militärabkommen zwischen Kolumbien und den Vereinigten Staaten gefährdet. Dieses Abkommen garantiert dem US-Militär Stützpunkte in Kolumbien und ermöglicht letztlich die Kontrolle des Luftraums von Venezuela und ganz Südamerika. In Anbetracht dieser Umstände ist es nicht übertrieben zu sagen, dass sich die Zukunft Südamerikas, was die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts angeht, in den nächsten zwei Jahren entscheiden wird. Die großen Alternativen und Entscheidungen zeichnen sich bereits am Horizont ab.
Erstens ist aus einer wirtschaftlichen Perspektive zu erwarten, dass nach der Krise der Druck seitens der internationalen Märkte zunimmt. Viele südamerikanische Länder werden weiter an die Peripherie gedrängt werden und in noch stärkerem Maße vom Export von Rohstoffen abhängig sein, selbst wenn sie ihre Exporte durch die Erschließung neuer Abnehmer in Asien, insbesondere China, diversifizieren. Daher wird nur eine zielstrebige und nachhaltige Politik das Projekt der südamerikanischen Integration in Gang halten können. Diese Entscheidung muss auf staatlicher Ebene getroffen werden und setzt den gemeinsamen Willen voraus, lokale Konflikte zu begrenzen, selbst wenn die Regierungen wechseln. Weiterhin ist eine politische Kooperation mit dem Ziel der Stärkung des südamerikanischen Binnenmarktes notwendig, damit die Regionen nicht mehr unterschiedlich stark von den Krisen und den internationalen Preisverschiebungen abhängig sind. An diesem Punkt kann es keine Kompromisse geben, weil die vom Rohstoffexport abhängigen Länder, selbst ölexportierende Länder, niemals Kontrolle über ihre gesamtwirtschaftliche Politik und noch viel weniger den Eintritt in die Weltwirtschaft als gleichwertige Handelspartner werden erreichen können.
Zweitens hat die Wirtschaftskrise aus einer politischen Sicht einmal mehr die nationalen und sozialen Asymmetrien und Ungleichheiten aufgezeigt, die hinter der heterogenen politischen Lage in vielen Regionen stehen. Diese erklären zum Teil auch das mangelnde Interesse mancher Länder des Kontinents für das Projekt der südamerikanischen Integration.
Und schließlich zeigt, in Bezug auf die kontinentale Sicherheit, die erhöhte militärische Präsenz der USA in Kolumbien, dass Südamerika noch lange Zeit unter dem „Schutz“ der Vereinigten Staaten stehen wird – ob es will oder nicht. Die südamerikanischen Staaten werden eine enorme Durchsetzungsfähigkeit und Hartnäckigkeit brauchen, um ein eigenes regionales Sicherheitssystem zu entwickeln, ohne einen Rüstungswettlauf auf dem Kontinent hervorzurufen.
Über eine Frage hingegen besteht kein Zweifel: Die Zukunft des südamerikanischen Projekts wird immer mehr von den brasilianischen Wahlen und dem Verhältnis zwischen Brasilien und den USA abhängen. Aus wirtschaftlicher Sicht könnte sich Brasilien durch den Druck der internationalen Märkte und die neuen Erdölfunde unter der Salzschicht des Atlantiks zu einer sehr starken Exportnation entwickeln, einer Art „Luxusperipherie“ der großen Käufernationen, wie früher schon beispielweise Argentinien und Australien. Ein anderer möglicher Weg wäre, produktive Industrien zu fördern, um so in Verbindung mit dem vorhandenen exportwirtschaftlichen Potential eine dynamischere Wirtschaftsstruktur schaffen. Diesen Weg hat beispielsweise Kanada gewählt. Es gibt aber auch eine dritte Option: die Schaffung einer starken und soliden Industrie mit großen Kapazitäten der Produktion von zum Export bestimmten Lebensmitteln und anderen hochwertigen Waren. Diese letzte, für Brasilien völlig neue Alternative entspräche in etwa dem US-amerikanischen Wirtschaftsmodell. Was die Politik betrifft, gibt es eine Veränderung: Nach der Vorherrschaft neoliberaler und privatisierender Ideen sowie eines „unterwürfigen Kosmopolitismus“ auf internationaler Ebene, setzt sich allmählich ein neuer entwicklungsorientierter, demokratischer und sozialer Konsens durch, der im Fall von Brasilien jedoch nicht sozialistisch geprägt ist.
Die Aussichten für einen zukünftigen südamerikanischen Machtblock werden jedoch in erheblichem Maße von der Außenpolitik der nächsten brasilianischen Regierungen abhängen. Einerseits könnte Brasilien zu einem „strategischen Partner“ der USA, Großbritanniens und Frankreichs werden, und so Zugang zu ihren Hochtechnologien erlangen. Auf diese Art hat beispielsweise Israel französische Kerntechnologie erwerben können. Andererseits aber könnte Brasilien die eigene Machtbasis festigen und international ausweiten. In diesem Fall müsste das Land allerdings die „Spielregeln“ der Weltpolitik befolgen und großen diplomatischen Aufwand betreiben, um den daraus entstehenden Wettbewerb, die Konflikte und Widersprüche mit den USA und anderen Großmächten zu kontrollieren, ohne dabei die eigenen wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen aus den Augen zu verlieren. Dies würde zu einem langfristigen Wettstreit um die Hegemonie in Südamerika führen. Der Weg durch einen solchen „kalten Krieg“ mit den USA wäre sehr schmal und könnte mehrere Dekaden dauern. Eine Vormachtrolle Brasiliens in Südamerika würde darüber hinaus die Erfindung einer neuen Form der wirtschaftlichen und politischen Expansion voraussetzen, die auf „Manifest Destiny“, also „offenkundige Bestimmung“, missionarische Ambitionen und den kriegerischen Imperialismus der beiden großen angelsächsischen Weltmächte verzichtet.
In Erinnerung an Carlos Estevam Martins, Freund und Kollege aus Santiago de Chile, Professor der Universität São Paulo, der am 9. Oktober 2009 verstorben ist.
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