Stillstand in Nagoya

von Andreas Behn, Nagoya

(Berlin, 27. Oktober 2010, npl).- Nationale Prioritäten und Desinteresse blockieren Fortschritte beim Schutz der biologischen Vielfalt

In den Toiletten des Kongresszentrums gibt es keine Vorrichtung zum Trocknen der Hände. Auch die Trinkwasserspender in dem modernen Gebäudekomplex bieten keine Plastikbecher an. Stattdessen werden bei der Einschreibung Handtücher und Thermobecher ausgegeben – der Umwelt Willen sollen sich alle Teilnehmer*innen der 10. UN-Konferenz zum Erhalt der Artenvielfalt (COP-10) in Nagoya der Wegwerfmentalität verweigern.

Gastgeber Japan will Erfolg

Die drittgrößte Stadt Japans steht ganz im Zeichen der biologischen Vielfalt. Mit Stolz zeigen die Gastgeber*innen der Konferenz ihre Erfolge im Umweltschutz. High-Tech-Lösungen werden gepriesen und die Notwendigkeit eines Umweltbewusstseins im Alltag wird angemahnt. Dass der viel kritisierte Walfang oder der geplante Bau eines Atomkraftwerks am Rand eines Bioreservats nahe Hiroshima nicht erwähnt werden, ist nicht ungewöhnlich. Alle Länder dieser Welt sehen sich gerne als Vorreiter in Sachen Umweltpolitik, in der Praxis aber haben Fragen wie Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze oder technischer Fortschritt stets Vorrang.

Ryu Matsumoto, Japans Umweltminister und in dieser Funktion Gipfelpräsident, muss allerdings einen besonderen Balanceakt vollbringen. Traditionell gilt Japan neben Staaten wie Kanada, Australien und Neuseeland als das Land, das am wenigsten Interesse an weitreichenden Abkommen zu einem wirklichen Schutz der Artenvielfalt hat. Zugleich wird das Japan alles daran setzen, ein Scheitern der Konferenz zu verhindern. Im Namen aller Industriestaaten hat Matsumoto die Aufgabe, einen Imageverlust wie bei der Klimakonferenz in Kopenhagen zu vermeiden.

Alles oder Nichts

Bisher ist ein erfolgreicher Abschluss allerdings in weiter Ferne. Vor allem die Verhandlungen für ein verbindliches Protokoll über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die gerechte Aufteilung der Vorteile aus ihrer Nutzung kommt nicht voran. Dieses ABS-Protokoll soll den Geist der 1992 in Rio de Janeiro beschlossenen Biodiversitätskonvention CBD, derzufolge die informierte Zustimmung und eine Gewinnaufteilung Voraussetzungen für die kommerzielle Nutzung lebendiger Organismen sind, in ein internationales Gesetzeswerk übersetzen. Aus Sicht der Entwicklungsländer und sozialer Organisationen geht es dabei um ein Ende der Biopiraterie – während die Industrie um den bisher kostenlosen Zugang zu genetischen Ressourcen bangt.

Mehrfach machten Länder des Südens, allen voran Brasilien, deutlich, dass es ohne Einigung auf ein ABS-Protokoll auch kein Konsens über einen Aktionsplan zur Rettung der Artenvielfalt bis 2020 und Maßnahmen zu deren Finanzierung geben werde. „Die Zeit wird knapp“, verlautet aus Verhandlungskreisen, bis Freitagabend muss alles unter Dach und Fach sein. Am Mittwoch begannen zudem die High-Level-Gespräche in Anwesenheit der Umweltminister*innen der 193 Vertragsstaaten. Zugleich wurden Vertreter*innen der Zivilgesellschaft aus einigen bis dato offenen Arbeitsgruppen ausgeschlossen.

Naturschutzgebiete sind keine Lösung

„Es ist Konsens, dass etwas getan werden muss“, sagt der Mexikaner Hugo Ortiz, der die Konferenz im Namen der Indígenas aus dem Bundesstaat Oaxaca verfolgt. „Umso unverständlicher ist, dass zwar so viele Verantwortungsträger über diese wichtigen Themen debattieren, sie aber sehr wenig Bereitschaft zeigen, sich auf gemeinsame Maßnahmen zu einigen.“

Hugo Ortiz brachte auf einer der vielen Veranstaltungen, die parallel zum offiziellen Programm auf dem Kongressgelände stattfinden, sein Anliegen zur Sprache: Bei der Einrichtung von Naturschutzgebieten, deren Förderung als Teil des Aktionsplans bereits beschlossen wurde, dürfen die Rechte der dort lebenden Menschen nicht missachtet werden. „Wir Indígenas sind es, die aufgrund unserer Lebensweise immer schon im Einklang mit der Natur gelebt haben. Jetzt sollen uns diese Gebiete im Namen des Naturschutzes genommen werden“, so Hugo Ortiz mit Hinweis auf die Praxis in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, Landrechte lokaler Gemeinden in diesem Kontext in Frage zu stellen. „Warum beschäftigt man sich nicht mit den Regionen, in denen die Biodiversität durch Industrie oder Landwirtschaft im großen Stil bereits vernichtet wurde?“

Geldwert der Biodiversität

Auch Camila Moreno von Friends of the Earth Brasilien stellt die Diskussionsgrundlagen in Nagoya in Frage. „Das Problem ist, dass hier die biologische Vielfalt in Geld gemessen wird, dass die Delegationen versuchen, deren Schutz durch die Anwendung von Marktmechanismen zu erreichen.“ Sie kritisiert auch den soeben veröffentlichten Teeb-Bericht der Vereinten Nationen. Diese Studie beziffert eindrucksvoll, welch einen wirtschaftlichen Verlust das Verschwinden von Pflanzen- und Tierarten für die Volkswirtschaft bedeutet. Laut Camila Moreno ist aber herauszulesen, dass „der Bericht unter Regie von Forschungseinrichtungen aus Industrieländern erstellt wurde, deren monetäre Sichtweise weder die Realität im Süden noch einen differenzierten Umgang mit natürlichen Ressourcen“ widerspiegelt.

Selbstkritisch fügt Moreno hinzu, dass es seitens der NGOS, Umwelt- und sozialen Bewegungen an konkreten Alternativvorschlägen mangele. Es sei zwar richtig, ein Verbot von Patenten auf lebende Organismen oder die Einbeziehung sozialer Aspekte in die Umweltpolitik zu fordern. Doch „wie die Nutzung genetischer Ressourcen im kapitalistischen Rahmen gerecht und nachhaltig gestaltet werden kann“ sei eine schwierige Frage.

Vielleicht sind es diese komplizierten Themen und die sperrigen Begriffe, die bewirken, dass die CDB-Gipfeltreffen stets im Schatten der Klimakonferenzen stehen. Doch weder Klima noch Umwelt sind zu retten, wenn die biologischen Grundlagen weiterhin in rasantem Tempo verloren gehen. Seit 1970 sind laut UN-Angaben 30 Prozent der Wirbeltierarten verschwunden. Von 5.490 Säugetierarten sind 79 ausgestorben und 500 weitere stehen kurz davor. Unter dem Meeresspiegel sind mittlerweile 70 Prozent der Korallenriffe tot. All dies gefährdet das Leben von Millionen Menschen aller Kontinente oder entspricht – in Geldscheinen ausgedrückt – einem jährlichen Schaden von rund fünf Billionen US-Dollar.

Desinteresse sozialer Bewegungen

Im Gegensatz zu Kopenhagen oder WTO-Gipfeltreffen sind soziale Bewegungen in Nagoya kaum vor Ort, es gibt keine Demonstrationen oder Proteste, die in den Medien oder in alternativen Netzwerken um die Welt gehen. Auch das Interaktive Biodiversitäts-Festival, das unter Federführung des CDB-Sekretariats in einem Park unmittelbar vor dem abgeriegelten Kongressgelände stattfindet, strahlt desinteressierte Langeweile aus. Die Mehrzahl der Stände ist von Biotech- oder Tourismusunternehmen, Forschungs- oder zoologischen Einrichtungen belegt oder dient schlicht als Werbefläche für Regierungen und Stadtverwaltungen. Alles steht unter dem Label „Biodiversität“, sei es das angebotene Fastfood oder das Büchsenbier, sei es die Werbung für den Bau von imposanten, angeblich nachhaltigen Straßenbrücken in wunderschönen Landschaften oder für naturgerechte Stadtplanung. Unter den NGOs sind von allem die großen Verbände wie Greenpeace oder WWF zu finden. Nicht einmal der weltweiten LandarbeiterInnen- und Landlosenbewegung Vía Campesina gelang es, mehr als 10 Interessierte in ihre Veranstaltung zu locken.

Geo-Engineering und Terminator-Saatgut

Auch wenn die Biodiversitäts-Konvention nur ein weiches internationales Vertragswerk ist und sanktionslos von Mitgliedsstaaten und Unternehmen missachtet werden kann, sind die Themen von weittragender Bedeutung. Alle zwei Jahre wird auf den COPs beispielsweise das Verbot für Freilandversuche von gentechnisch veränderten Bäumen oder des unfruchtbaren Terminator-Saatgutes erneut geprüft. Es geht um sogenannte Geo-Engineering-Projekte, mit denen versucht wird, direkt das Klima zu beeinflussen. Oder um Agrostreibstoffe, dessen Nachfrage nach Monokultur-Anbaufläche die Abholzung der Urwälder beschleunigt.

Letzteres Thema zeigt auch, wie unterschiedlich die jeweiligen nationalen Interessen sind. Brasiliens hat beispielsweise dazu beigetragen, die Gruppe der 17 Staaten zusammenzubringen, die rund 70 Prozent der weltweiten Bioressourcen beheimaten. Diese Gruppe tritt insbesondere bei den ABS-Verhandlungen mit einer Stimme auf und hat großen Anteil daran, die CDB-Verhandlungen ähnlich wie die Klimakonferenzen in ein Kräftemessen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu verwandeln. Als großer Agrarexporteur hingegen zieht Brasilien in der Frage der Agrartreibstoffe oder der Zulassung von Gentech-Lebensmitteln mit der industriellen Landwirtschaft und den Ländern des Nordens an einem Strang.

Kritik an EU-Position

Der Stillstand der Verhandlungen insbesondere beim ABS-Protokoll veranlasste die Beobachter*innen des Evangelischen Entwicklungsdienstes EED in Nagoya am Mittwoch zu einer scharfen Stellungsnahme zur Haltung der Bundesregierung. Deutschland und die EU wollten das neue Protokoll dazu nutzen, “europäischen Unternehmen den Zugang zu genetischen Ressourcen der Entwicklungsländer zu sichern. Gewinne aus dieser Nutzung mit den Entwicklungsländern zu teilen, ist dagegen bislang nachrangig”, so Michael Frein vom EED. “Deutschland und die ganze EU sehen sich gerne als Vorreiter in Sachen Natur- und Umweltschutz. In den nächsten Tagen haben Sie hier in Nagoya die Chance zu beweisen, dass dies nicht nur Lippenbekenntnisse sind.”

 

Tipp: Radioreportage (Von Andreas Behn)

UN-Konferenz streitet über Biopiraterie

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