von Nancy Azpilcueta y Daniel Raddi
(Fortaleza, 15. Mai 2013, adital).- Die alternative unabhängig und unkommerziell arbeitende Online-Zeitung Los Ángeles Press hat in den letzten Jahren immer wieder Menschenrechtsverletzungen öffentlich gemacht. So berichtete sie auch über den Fall der Anwältin Francisca Galván Segura. Diese hatte in den letzten drei Jahren Frauen unterstützt, deren Töchter verschwunden sind, und ihnen geholfen, Informationen zusammenzutragen, um die Suche nach den verschwundenen Kindern voranzutreiben.
Seit dem 22. Februar befindet sich Galván Segura im Gefängnis für illegale Einwanderer*innen in San Diego, Kalifornien, weil sie aus Mexiko geflohen war, um ihr Leben zu retten und in den USA um Schutz zu bitten. Ihre Flucht ist ein weiterer Fall von erzwungener Migration, angetrieben von dem Wunsch, am Leben zu bleiben.
Interview mit Guadalupe Lizárraga
Mitarbeiter*innen von Radioterapia (FM West 106,9 und Radio Enlace 3) sprachen mit der Gründerin von Los Ángeles Press, Guadalupe Lizárraga in Los Angeles, um die Einzelheiten dieses Falls zu erfahren. In dem Interview sprach die Journalistin über Drohungen gegen ein argentinisches Team der Gerichtsanthropologie, das an der Identifizierung von Leichen aus Massengräbern arbeitet – und darüber, dass immer mehr Mädchen umgebracht werden, um ihre Organe zu verkaufen; der Preis für eine Niere erreicht bis zu 200.000 US-Dollar.
Erzähl uns am besten alles, vielleicht auch kurz was über die Situation von Francisca Galván…
–Francisca Galván ist eine Menschenrechtsanwältin, die in den letzten drei Jahren eng mit dem Mütterkomitee Ciudad Juárez zusammengearbeitet und geholfen hat, Unterlagen zum Verschwinden ihrer Töchter zu bearbeiten. Sie hat diese Arbeit freiwillig gemacht und sich dafür eingesetzt, dass die Wahrheit über geschlechtlich motivierte Verbrechen ans Licht kommt. Als klar wurde, wie gefährlich diese Arbeit ist, wandte Francisca sich an mich. In den folgenden zwei Jahren haben wir dann gemeinsam Nachforschungen betrieben, worauf Francisca einige unserer Ergebnisse in Form von Strafanzeigen publik machte. Das brachte ihr dann die ersten Todesdrohungen ein. „Justicia para Nuestras Hijas“ wurde durch eine der betroffenen Mütter gegründet. Norma Ledezma gründete diese Initiative, nachdem ihre Tochter im Jahr 2001 ermordet aufgefunden wurde.
Mit der Zeit kommt immer mehr Geld zusammen. Mit jedem Frauenmord gibt es eine weitere Mutter, die Geld für die Suche nach ihrer Tochter auftreiben kann, damit ihrer verschwundenen Tochter Recht geschieht. Das geschieht mit dem Geld dieser Organisationen und zum Teil auch mit dem Geld der Behörden von Chihuahua. Und weil dieser Etat durch ihre Arbeit immer größer wurde, hat man Francisca mit dem Tode bedroht. Das ging so weit, dass sie Ciudad Juárez verlassen und den Grenzübergang bei San Diego nehmen wollte, um politisches Asyl in Los Angeles in Kalifornien zu beantragen.
Dank unserer politischen Arbeit und unseren Nachforschungen wurden bereits drei Anträge auf politisches Asyl positiv beschieden. Den ersten stellten wir für Manuel García, den Bruder einer Mutter aus Juárez, und noch zwei für ein zehnjähriges Mädchen und ihre Mutter. Man hatte gedroht, das Mädchen zu enthaupten, um Francisca unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen. Den Namen des Mädchens werde ich aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Dann gibt es noch eine Mutter aus Juárez, Karla Castañeda. Ihr und ihren vier Kindern wurde ebenfalls Zuflucht aus politischen Gründen gewährt.
Dieser Fall hier ist nun der vierte Antrag auf politisches Asyl wegen der gewalttätigen Situation in Ciudad Juárez. Diese Gewalt geht von den Behörden aus, denn Justicia para Nuestras Hijas wird von der Regierung mitfinanziert, die Initiative gehört gewissermaßen zur Regierung, und das ist der Vorteil, den wir haben. Francisca Galván Segura ist seit dem 23. Februar in Haft. Am 22. wurde sie an der Grenzbrücke vorstellig, am 23. wurde sie ins Einwanderungsgefängnis Otay in San Diego an der Grenze zu Baja California, Mexiko, gebracht, und seitdem wartet sie darauf, dass ihr die Aufenthaltsgenehmigung bewilligt wird.
Wir haben gehört, dass es wegen eurer Recherchen Todesdrohungen gegen dich und einen weiteren Journalisten gab. Bekommt ihr Unterstützung von einer Organisation oder einer offiziellen Stelle?
–Nein, wir haben Unterstützung bei Artículo 19 angefordert, das ist eine Menschenrechtsorganisation für Journalist*innen. Von ihnen bekamen wir Unterstützung, als es hier ganz eng wurde; sie haben uns geholfen, den Kollegen aus Juárez rauszuholen und in Sicherheit zu bringen, und auch, als ich dem FBI hier in den USA den Bericht vorgelegt habe. Das ist die einzige Organisation, mit der wir zusammenarbeiten. Die Drohungen kamen dann im Dezember 2011, wenige Tage nachdem wir eine Serie veröffentlicht hatten, in der wir darüber berichteten, dass im Leichenschauhaus von Ciudad Juárez Knochenreste von insgesamt 233 unidentifizierten Personen liegen, die meisten von ihnen junge Frauen.
Hat sich denn die Nationale Menschenrechtskommission oder irgendeine andere Organisation öffentlich auf eure Seite oder auf die von Francisca Galván gestellt?
–Nein, die Nationale Menschenrechtskommission nicht. Aber ein Menschenrechtsbeauftragter der Regierung kam vorbei, was uns sehr gewundert hat. Das war eine Woche, nachdem Francisca politisches Asyl beantragt hatte, da kamen sie, ohne Anwalt, und auch ohne dem Anwalt Bescheid zu sagen. Das war ein Überraschungsbesuch der Regierung und von jemandem von der Staatsanwalt, das hat uns wie gesagt sehr überrascht. Nach nur einer Woche war das noch kein Fall, der in den Medien auftauchte. Wir wussten nicht, was davon zu halten ist, und Francisca hatte vor allem Behördlichen Angst. Wir wissen, dass die Behörden über alles bestens informiert sind, und doch ziehen sie aus diesen Informationen nicht die Schlüsse, die sie ziehen sollten.
In unserem Fall als Menschenrechtsorganisationen und in meinem als Journalistin konnten wir die Unterstützung der Menschenrechtsorganisationen hier vor Ort, in den Vereinigten Staaten, in Los Angeles und San Diego, und in Mexiko-Stadt gewinnen und dafür sorgen, dass sie den Fall weiter verfolgen und Aktionen dazu machen. Insbesondere um den Migrationsbeauftragten John Morrison auf den Fall aufmerksam zu machen. Wir sind auch über die digitale Plattform change.org an die Öffentlichkeit gegangen, um Unterschriften zu sammeln, und es wurde je ein Brief an Präsident Barack Obama und an Morton geschickt, um klarzumachen, dass es eine Menschenrechtsverletzung darstellt, jemanden, der auf die Bewilligung seines Asylantrags wartet, so lange im Einwanderungsgefängnis festzuhalten.
Guadalupe, du hast bis jetzt das mexikanische Konsulat in Los Angeles noch nicht erwähnt. Gibt es da überhaupt eins, oder in der Nähe? Du hast noch nichts dazu gesagt, ob es sich irgendwie eingebracht oder euch in irgendeiner Form unterstützt hätten…
Also, das Konsulat ist dasselbe wie die mexikanische Regierung, faktisch ist es aber auch die mexikanische Regierung, die Francisca Galván Segura mit dem Tode bedroht. Auch wenn es jetzt die Landesregierung war, gehören sie dazu, und die Staatsanwaltschaft auch, und die waren sogar zu Besuch in der Zelle. Zu Hilfe kommt uns Javier Juárez, ein Journalist aus Spanien, mit dem ich ebenfalls bei diesen Nachforschungen zusammengearbeitet habe. Auf der anderen Seite ist da Rosa María Sandoval, die für die Ermittlungen bei den Frauenmorden in Ciudad Juárez zuständig ist. Aus unserer Sicht sind sie die Aggressoren.
Untersuchst du jetzt weiter die Frauenmorde in Ciudad Juárez, oder bist du an anderen Nachforschungen dran?
– Ich mache mit den Nachforschungen weiter. Ich werde die ganzen letzten Jahre unserer Arbeit in einem Buch veröffentlichen, allerdings mit dem Hauptaugenmerk darauf, wer welchen Gewinn aus dem Frauenmorden zieht. Und um welchen Gewinn geht es nun? Selbst im Hinblick auf die Mütter von Juárez ist die Frage eine Überlegung wert. Die Menschen leben in extremer wirtschaftlicher Armut, sie bekommen finanzielle Unterstützung, während die eigentlichen gerichtlichen Untersuchungen bis in alle Ewigkeit verzögert werden. Über diese Arbeit möchte ich in meinem Buch berichten.
Eine weitere Forschungsthematik ist der Sexhandel. Nehmen wir den Bundesstaat Veracruz. Allein in Orizaba verschwanden von Januar bis jetzt sieben Mädchen, und die Staatsanwaltschaft, die eigentlich die Verantwortung hat, ihr Verschwinden aufzuklären, bedroht auch noch die Mütter, die mit der Suche nach ihnen beschäftigt sind. Das passiert öfter in Mexiko. Im Hafen von Veracruz und im Bundesstaat Mexiko werden Mädchen entführt, auch wenn es nicht so benannt wird, weil das in Mexiko nämlich sehr oft vorkommt.
Guadalupe, wir sagen immer, dass zwischen Argentinien und Mexiko viele Übereinstimmungen bestehen, und hinsichtlich der Frauenmorde anscheinend auch. Es gab doch dieses argentinische Gerichtsmedizinerinnenteam. Weißt du was darüber? Denkst du, dass sie gute Arbeit geleistet haben?
–Das Team von argentinischen Gerichtsmedizinerinnen stand mit Francisca Galván Segura in Kontakt. Wir haben auch einige Informationen von ihnen bekommen. Als wir anfingen, ihre Ansichten zu veröffentlichen und andere Medien in Mexiko begannen, sich darauf zu beziehen, wurden die Behörden in Chihuahua unruhig, fingen an, die Fakten zu verdrehen und auf Pressekonferenzen manipulierte Informationen zu verbreiten. Die Anthropologinnen mussten daraufhin die Aussagen vor der Regierung wieder richtig stellen. Dabei ging es um Folgendes: Man warf ihnen vor, sie hätten ihre Arbeit nicht zu Ende geführt, worauf die Anthropologinnen konterten, man habe sie aus Chihuahua verscheucht, ihre Verträge aufgekündigt und ihnen nicht erlaubt, die übrigen Toten zu identifizieren, die Knochenreste von den 233 Personen, von denen wir vorhin sprachen. Von ihnen hatten wir die Information, dass es sogar mehr als 233 Menschen waren, davon mehrheitlich Mädchen und junge Frauen. Sie sagten zu uns: Wir haben hier einen Schädel, da einen Knochen, die reinste Müllkippe, ein komplettes Durcheinander in diesem Massengrab. So gesehen: Ja, sie haben dazu beigetragen, dass dieser Fall öffentlich gemacht wird.
Meine letzte Frage bezieht sich auf ein Thema, das hier in Argentinien sehr breit diskutiert wird, nicht nur in den Medien sondern auch im Parlament, und das ist der Menschenhandel. Muss man von einer direkten Beteiligung der Regierungen am Menschenhandel ausgehen?
–Was Chihuahua betrifft, gehen wir von einer direkten Beteiligung aus. Da sind Leute in wichtigen Funktionen, Richter, die an den Verbrechen, an der Ermordung junger Frauen beteiligt sind. Wir haben auch Beweise, dass es bei dem, was hier immer so als Sexhandel deklariert wird, eigentlich um Organhandel geht. Manche Mädchen werden drei Tage nach ihrer Entführung durch einen Schlag auf den Kopf getötet. Das heißt, sie werden erst vergewaltigt und dann getötet. Würde es um Menschenhandel gehen, würde man durch Prostitution aus ihren Körpern Profit schlagen. Aber hier geht es um Organhandel. Die Organe der Mädchen sind es, mit denen Geld gemacht wird. Auf dem Schwarzmarkt in Juárez liegt der Preis für eine Niere bei 200.000 US-Dollar. Das bedeutet, wer eine will und das Geld hat, bekommt auch eine. Die Mädchen sind absolut schutzlos, haben keine Chance, sich zu verteidigen. Und für ihre Ermordung tritt kein Strafgericht in Aktion.
Dann möchte ich dich noch als letztes fragen: Offensichtlich geht es hier um geschlechtlich motivierte Gewalt, um Frauenhass. Denkst du, es gibt feministische Frauenorganisationen, die das erkennen und aus genau diesem Grund einschreiten?
–Ja. Wir sind in Kontakt mit einer internationalen Anwältin, Almudena Bernabeu aus San Francisco. Wir arbeiten genau in dieser Frage mit dem Zentrum für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit (Center for Justice & Accountability) zusammen; dort wurde uns erklärt, dass wir den Staat wegen Verbrechen gegen die Menschheit belangen können, denn die geschlechtlich motivierte Gewalt zählt zu dieser Kategorie Verbrechen. Zumindest in Mexiko haben die Organisationen Angst, sich zu sehr einzubringen, denn wer sich zu sehr hinter diese Anklage stellt und für die Verteidigung der Opfer eintritt und zuviel nachforscht, mehr als offiziell gewünscht und erlaubt ist und was die Medien bereit sind zu veröffentlichen, der lebt gefährlich. Deshalb halten die Organisationen einen gewissen Abstand, aber sie treten schon für die Verteidigung von Francisca Galván Segura ein.
[Quelle: Forum en Línea 265].
Organhandel schreckt vor Mord an Mädchen nicht zurück von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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