Die Farbe Rosa und der Regenbogen der komplexen Realität

ICJA-Freiwillige Christián, Emilio, Carla, Roxy und Ana beim NPLA Radio-Workshop in Berlin 2021. Foto: NPLA

Ich bin Cristián, ich komme aus Kolumbien und arbeite seit September 2021 als Freiwilliger in Deutschland. Die Erfahrungen, die ich seit meiner Ankunft gemacht habe, sind einzigartig. Denn jeder Tag ist ein einzigartiges Abenteuer, und es gibt immer etwas, das mein Gefühl von Neuem einfängt. Diese Reise war zuerst ein Traum der wegen der Pandemie und der damit verbundenen Rückschläge um etwa zwei Jahre verschoben wurde.

Es ist eine riesige Überraschung eine völlig neue Kultur zu erleben

Bevor ich diese unglaubliche Erfahrung machte, stellte ich mir vor, wie das Leben in einem der Länder mit der stabilsten Wirtschaft und dem effizientesten Sozialsystem sein würde. Auch jetzt noch ist es eine große Überraschung und Herausforderung für mich, in einer völlig neuen Kultur zu leben, mit allem, was dazu gehört: Eine Sprache nach und nach zu lernen, sich in einen neuen Lebensrhythmus und eine neue Gemeinschaft zu integrieren, neue Orte, Landschaften, Speisen und Bräuche kennen zu lernen und die Unterschiede zu meiner eigenen Kultur und Weltanschauung zu erkennen.

Vor dieser Erfahrung hatte ich die Gelegenheit, junge Deutsche zu treffen, die in Kolumbien als Freiwillige in verschiedenen sozialen Bereichen arbeiteten. Nach einem Jahr berichteten sie über die Unterschiede zwischen unseren Ländern und unseren Kulturen. Was mich am meisten beeindruckte, war wie viele von ihnen mir sagten, dass sie sich sehr privilegiert fühlten. Dass eine interkulturelle Erfahrung, in der du in einer anderen Kultur lebst und die enormen Unterschiede in unseren Lebensrealitäten wahrnimmst, so wertvoll ist, war mir zuvor nicht bewusst.

Die Realität ist viel komplexer als das was wir von einem Ort hören

Ich saß oft da und dachte, dass ich, wenn ich nach Deutschland käme und das Leben dort aus erster Hand erleben würde, bessere Lebensbedingungen vorfinden würde als zu Hause, vor allem in Bezug auf Gesundheit, Verkehr, soziale Sicherheit und so weiter.

Der Blick auf den Ort Heckenbeck in Niedersachsen. Foto: Cristián Hilarión

Ich lebe jetzt in einem kleinen Dorf mit 450-500 Einwohner*innen, so klein, dass es nicht einmal mit einem Viertel in meiner Stadt vergleichbar ist. Hier arbeite ich als Freiwilliger in einer freien Schule. Dies ist ein Ort, an dem alles auf mich erst einmal surreal anmutete, weil die Kinder frei wählen können, was ihnen am besten gefällt, und verschiedene Ansätze durch Spiel, Sport und Kunst erkunden. Sie sind auch viel naturverbundener und haben ein größeres Interesse an Fragen der Umwelt und des Klimawandels; sie haben Gärten und organisieren Baumpflanzungen. Wir haben sogar an einer Demonstration im Rahmen der Bewegung „Fridays for Future“ teilgenommen. Außerdem hört man häufig, dass viele eine vegetarische oder vegane Ernährung bevorzugen (etwas, worüber man in der Schule zu Hause in Kolumbien ehrlich gesagt nur sehr wenig hört).

Ich befinde mich in einen Prozess des ständigen Lernens

Wenn man bedenkt, dass meine Erfahrungen aus einem Bildungssystem stammen, in dem Noten mehr Bedeutung haben, als die persönliche Entwicklung des Einzelnen (hinzu kommt dass ich eine Schule mit militärischem Schwerpunkt besucht hab), wird sicher klar, wie sehr mich dieses Schulmodell überrascht hat. Ich fühle mich hier in einen Prozess des ständigen Lernens eingebettet, der mich sogar dazu gebracht hat, Aspekte meiner eigenen Entwicklung, meines Geschmacks und meiner Persönlichkeit zu überdenken. Kurz gesagt: ICH LIEBE ES.

Es gibt also viele Aspekte, die ich sehr positiv finde, aber es gibt auch andere, von denen ich mir mehr erhofft hatte und bei denen es noch einen langen Weg zu gehen gilt. Das erste ist die Frage der Mobilität, denn obwohl das Zugsystem relativ gut funktioniert, hatte ich einige krasse Rückschläge aufgrund von Verspätungen oder Ausfällen meiner Verbindungen. Oft blieb mir nichts anderes übrig, als für mehr als eine Stunde ein Taxi zu nehmen (obwohl ich dazu sagen muss, dass die Kosten für diese Unannehmlichkeiten von der staatlichen Bahngesellschaft übernommen wurden). Was die Mobilität betrifft, so fand ich es auch schwierig, an den Wochenenden und abends keine Busverbindung zu haben. Um vom Bahnhof nach Hause zu kommen, muss ich mit dem Fahrrad fahren oder jemanden bitten, mich abzuholen. Das erklärt viel darüber, warum das Auto immer noch eine Existenzgrundlage für Familien ist und vielleicht auch warum es eine der stärksten Wirtschaftszweige des Landes ist.

Mit dem Willen um Kooperation lassen sich viele Probleme lösen

An dem Ort an dem ich jetzt lebe spürt man diesen Druck ebenfalls, warum die Gemeinde ein Carsharing-System entwickelt hat. So tragen sie auch dazu bei die schädlichen Auswirkungen von Abgasen auf die Umwelt zu verringern. Das hat mir gezeigt, dass mit Willen und Kooperationsbereitschaft viele Probleme gelöst werden können. Solange ich keinen Führerschein habe und nicht mitfahren kann, werde ich weiterhin meine Fahrten auf meinem „Stahlross“ und die Landschaften am Wegesrand genießen… denn ein Führerschein ist unbezahlbar, erst recht mit einem Einkommen als Freiwilliger.

Ein weiteres Thema, über das ich sprechen möchte, ist das Essen, denn als Latino ist es eines der Dinge, die ich am meisten vermisse. Es gibt zwar verschiedene Alternativen, aber sie sind nicht vergleichbar mit dem immensen Reichtum an Farben, Geschmäckern und Texturen, den die Tropen kulinarisch zu bieten haben. Viele der Produkte, die wir kaufen, müssen über weite Strecken nach Deutschland transportiert werden. Seit ich hier bin, habe ich mehr darüber nachgedacht, was ich konsumiere und welche Auswirkungen eine einfache Handlung wie das Einkaufen hat. Auch wenn es große Anstrengungen zur Verringerung von Abfall oder Recycling gibt, bin ich jedes mal schockiert, wenn ich in Supermärkten Produkte sehe, die in mehreren Schichten aus Plastik verpackt sind. Ich finde das ziemlich unnötig und verbesserungswürdig. In der Zwischenzeit werde ich weiterhin nach jedem Einkauf meinen gelben Stoffbeutel füllen und versuchen, noch mehr Alternativen zu finden.

Der Kampf um Wohnraum ist ein internationales Problem

Die Regenbogenfabrik zur Zeit ihrer Besetzung in den 80er Jahren. Foto: Regenbogenfabrik

Zum Schluss möchte ich noch über eine großartige Erfahrung berichten, die ich dank des NPLA gemacht habe. Wir waren eingeladen nach Berlin für den Radio-Workshop zum Thema „Würdiger Wohnraum“ mit weiteren ICJA-Freiwilligen. Während dieser Tage übernachteten wir in der Regenbogenfabrik und konnten so etwas über die Geschichte dieses Ortes erfahren. Es ist ein Haus, das in den 1980er Jahren besetzt wurde. Die Hausbesetzungsszene war damals eine starke Bewegung, die für das Recht auf angemessenem Wohnraum kämpfte und gegen die Auffassung von Wohnraum als Ware eintrat.

Was mir während unseres Besuchs und des Workshops am meisten aufgefallen ist, ist die Tatsache, dass das Thema Wohnen hier und in unseren Ländern Gemeinsamkeiten aufweist. Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für alle Menschen eine Herausforderung dar. Das Problem wurde bisher nirgends bewältigt und die Kämpfe um Wohnraum werden überall immer größer. In Berlin ist dieses Problem besonders akut, denn in den letzten Jahren sind die Mietpreise in die Höhe gestiegen. Es herrscht ein starker Wettbewerb um die Flächen, denn im Durchschnitt konkurrieren 200 Personen um eine Wohnung. Ich habe selbst viele Freunde, die in Berlin kein Zimmer finden können, weil sie sich die hohen Mieten nicht leisten können. Der Wettbewerb um Wohnungen ist so groß, dass in der Regel einfach diejenigen gewinnen, die am meisten bezahlen können. Das bedeutet, dass die großen Immobilienunternehmen die Mieten immer höher ansetzen können – sie finden immer jemanden, der dafür zahlt. Die Bewohner*innen der Stadt Berlin kritisieren, dass es bisher keinen funktionierenden gesetzlichen Schutz durch die Regierung gibt, der wirklich die Begrenzung der Mieten durchsetzt (Mietpreisbremse, Milieuschutz).

Am Ende gibt es nicht nur rosa oder schwarz-weiß, sondern alle Farben

Außerdem werden Freiräume, wie der Köpi-Wagenplatz, die von selbst organisierten, unabhängigen und gemeinnützigen Gruppen geschaffen wurden, geräumt, um Platz für Luxuswohnungen zu schaffen. Eine Situation, die wir just an dem Tag, an dem wir für unseren Workshop in Berlin ankamen, hautnah miterlebten, als die Räumung bevorstand und ein großer Protest organisiert wurde, den wir direkt vor dem U-Bahnhof miterlebten: Fahnen zur Verteidigung des Rechts auf Wohnen, Parolen gegen übermäßiges Kapital und Tausende von Protestierenden.

Hinzu kommt eine Tatsache, die ich in deutschen Städten niemlas so massiv erwartet hätte: Menschen, die auf der Straße leben. Tausende von Menschen, die sich in den kalten Wintermonaten oder bei unerträglicher Hitze im Freien aufhalten. Jeder sollte einen angemessenen Platz zum Leben haben – in Europa, Amerika oder irgendwo auf der Welt.

Ankunft an der Regenbogenfabrik, die heute auch als Hostel genutzt wird. Foto: NPLA

Kurzum, die deutsche Kultur in all ihren Ausformungen: vieles, was gut läuft, Ja, und vieles, was nicht so gut läuft. Meine Erfahrung als Freiwilliger in Deutschland hat mich schließlich gelehrt, meine Stereotype von einer „perfekten deutschen Welt“ durch ein viel mehrdeutigeres, komplexeres Bild zu ersetzen, das neben seine positiven auch seine negativen Seiten hat. Es ist ein bisschen wie mit dem Regenbogen, der auch das Symbol unserer Unterkunft in Berlin, der Regenbogenfabrik, ist – Es gibt nicht nur rosa oder schwarz-weiß, sondern alle Farben. Der Regenbogen basiert auf unzähligen Nuancen, und das Leben ist nirgendwo nur „rosig“.

Hier gibt’s diesen Beitrag auch auf Spanisch.

 

 

CC BY-SA 4.0 Die Farbe Rosa und der Regenbogen der komplexen Realität von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

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