Von den Alten lernen: Kinder besuchen Sprachkurse in Cocama

Von Jessica Zeller

Lehrer Don Victor unterrichtet bei sich zu Hause Kinder in der indigenen Sprache der Cocama / Foto: Jessica Zeller, CC BY-NC-SA 2.0
Lehrer Don Victor unterrichtet bei sich zu Hause Kinder in der indigenen Sprache der Cocama / Foto: Jessica Zeller, CC BY-NC-SA 2.0

(Nauta/Berlin, 27. November 2017, npl).- Es muss nicht immer Englisch sein. In Nauta, einer kleinen Stadt im peruanischen Amazonasgebiet, lernen Kinder und Jugendliche die fast ausgestorbene Sprache der indigenen Cocama. In der Zeit des Kautschukbooms von Mitte des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Bewohner*innen im Nordosten und ihre Kultur gewaltsam unterdrückt. Doch einige Frauen und Männer in Nauta sprechen bis heute noch die alte Sprache und bringen sie der jüngeren Generation in kleinen Klassen wieder bei.

Nauta und die Cocama

Es ist ein schwülwarmer Nachmittag in Nauta, einer kleinen Stadt im peruanischen Amazonasgebiet, unweit des großen Binnenhafen von Iquitos. Don Victor, ein Mann im fortgeschrittenen Alter, bewohnt mit seiner Frau eine kleine Hütte am Stadtrand. Don Victor ist Cocama-Indígena – wie die meisten der knapp 30.000 Bewohner*innen von Nauta. Nur, dass sich fast niemand von ihnen als solcher verstanden wissen will. Lieber sind sie Frauen, Männer, Bürger*innen oder einfach: Peruaner*innen. Was heute kaum einer weiß: Nauta wurde im Jahr 1830 sogar von einem Indigenen gegründet. Doch heute ist die Kultur der Cocama im Straßenbild kaum noch präsent und ihre Sprache fast ausgestorben. Don Victor spricht sie noch – und unterrichtet sie sogar bei sich zu Hause.

Sprachunterricht bei Don Victor

Rund ein halbes Dutzend Mädchen und Jungen haben heute an dem großen Holztisch in seinem Wohnraum Platz genommen. Vor ihnen liegen Papier und Stifte. Don Victor erzählt seinen Schüler*innen, worin die Besonderheiten der Sprache liegen. Von der Aussprache her sei Cocama eher mit dem Englischen als mit dem Spanischen vergleichbar. Und ein Mann rede in einer anderen grammatikalischen Form als eine Frau.

Die meisten Kinder in Don Victors kleiner Klasse fangen gerade erst an, die indigene Sprache zu lernen. Ihre Motivation ist ganz unterschiedlich. Cocama sagen sie, könne man später gut gebrauchen, gerade wenn man beruflich viel mit den Bewohner*innen der Fluss-Dörfer zu tun habe. In der Schule pauken sie Englisch – bei Don Victor eben Cocama. Oft sind es die Eltern, die ihre Kinder dazu anhalten die alte Sprache zu lernen.

Unterdrückung der indigenen Sprache und Kultur

Radiomacherin Rita Muñoz, Don Victor und zwei seiner Schüler vor seinem Haus am Stadtrand von Nauta / Foto: Jessica Zeller, CC BY-NC-SA 2.0
Radiomacherin Rita Muñoz, Don Victor und zwei seiner Schüler vor seinem Haus am Stadtrand von Nauta / Foto: Jessica Zeller, CC BY-NC-SA 2.0

Die Generation, die heute im Berufsleben steht, ist meist ohne Cocama aufgewachsen. Kindern, die diese Sprache damals noch zu Hause sprachen, wurde dies spätestens mit Eintritt in die Schule untersagt, erinnert sich Rita Muñoz, Radiomacherin aus Nauta: „Meine Mutter hat mir erzählt, dass es in ihrer Grundschulklasse Kinder aus den Dörfern gab, die ausschließlich Cocama sprachen, und kaum Spanisch verstanden. Als die Lehrerin einen Jungen aufforderte zu zählen, sagte er „Huipi“ – auf Cocama heißt das Eins. Und die Lehrerin fing an ihn zu schlagen.“

Auch Don Victor musste solche Szenen am eigenen Leib erfahren. Wenn die Lehrer*innen mitbekamen, dass er sich auf dem Pausenhof mit seinen Freund*innen auf Cocama unterhielt, musste er zur Strafe auf rohen Maiskörnern knien.

Die Schule verlängerte auf grausame Weise die Gewalt, der die Cocama in Peru seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesetzt waren. Als im Amazonasgebiet der Kautschukboom ausgebrach, wurden die Indigenen – je nach Geschlecht – zu Zwangsarbeiter*innen oder Sexsklav*innen der Landbesitzer*innen und Unternehmer*innen degradiert. Radiomacherin Rita Muñoz sieht darin den Grund dafür, warum die Menschen in Nauta und Umgebung keine Cocama sein wollten. „Sie verdrängen ihre Geschichte. Der indigenen Kultur anzugehören, ist mit Scham behaftet.“

Mythen und Legenden des Widerstands

Die schmerzhaften Erfahrungen der Cocama versinnbildlichen sich auch in den indigenen Mythen und Legenden. Zum Beispiel in der Legende des schwarzen Tigers. Tagsüber, so erzählt Lehrer Don Victor seinen aufmerksamen Schüler*innen, sei der Tiger ganz friedlich. Aber nachts fresse er die schlafenden Kautschuk-Arbeiter*innen. Doch ein Indigener sei wach geblieben und habe ihn gesehen. Und den schwarzen Tiger mit einem Stock erschlagen.

Leonardo Tello, Direktor des Community-Radios "Radio Ucamara" in Nauta / Foto: © Juanjo Fernandez
Leonardo Tello, Direktor des Community-Radios „Radio Ucamara“ in Nauta / Foto: © Juanjo Fernandez

Geschichten wie diese, in der auch Widerstand eine wichtige Rolle spielt, erzählten sich die Menschen im peruanischen Amazonasgebiet mündlich – heimlich, im Verborgenen. Eine Schriftsprache gibt es im Cocama nicht. Wohl auch deshalb verläuft die aktuelle Wiederentdeckung der indigenen Sprache und ihrer Kultur zu guten Teilen in einem Sprachmedium: dem Radio. Eine entscheidende Rolle hierbei spielte Radio Ucamara, ein Community-Sender aus Nauta. Leiter Leonardo Tello berichtet: „Mein Vorgänger Miguel Ángel Cadenas, hat eine Gruppe von älteren Frauen und Männern gegründet. In ihrer Sendung sollten sich einfach nur unterhalten. Über ihr Leben. Dabei fielen die ersten Wörter und Satzfetzen auf Cocama. Es wurden Scherze gemacht.“

Die Unterdrückung in der Schule hatte also nicht vollständig funktioniert. Die alten Leutchen sprachen noch Cocama! Von da an wurde die Sprache zum Zentrum der wöchentlichen Radio-Unterhaltung. Und in einem nächsten Schritt wurden die Mitglieder der Gruppe dazu motiviert, den jungen Indígena-Kindern die alte Sprache beibringen.

Heute lernen in Nauta etwas mehr als hundert Kinder und Jugendliche die alte Sprache. Frauen und Männer, die ihre Großeltern sein könnten, wurden zu Lehrerinnen und Lehrern. „Und für uns als Radio sind die alten Menschen die Wissensquelle für künftige Projekte“, ergänzt Leonardo Tello.

Bereits zwei Bücher hat Radio Ucamara veröffentlicht, in denen die Mythen der Cocama versammelt sind, der Leute vom Fluss, wie es in einem Buchtitel heißt. In den Straßen von Nauta wurden Wandbilder zu den indigenen Legenden und den schmerzhaften Erfahrungen während der Kautschuk-Epoche gemalt. Und nach vielen Jahren ehrenamtlicher Anstrengungen ist auch der peruanische Staat davon überzeugt, dass die Sprache der Cocama nicht etwas ist, das man unterdrücken, sondern fördern sollte. Vom Bildungsministerium gibt es etwas Geld: für ein Cocama-Wörterbuch, das von den alten Indigenen gerade erarbeitet wird sowie für den Sprachunterricht. Für Radiomacherin Rita Muñoz ist die Unterstützung des Staates aber immer noch viel zu wenig: „Die alten Menschen sterben ja irgendwann. Man muss also schnell etwas tun, um die Sprache langfristig zu bewahren.“

KinderZu diesem Artikel gibt es auch einen Radiobeitrag bei onda, den ihr hier anhören könnt.

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