Dr. Peter Clausing ist Toxikologe und Mitglied von México vía Berlín e.V. Vermittelt vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika FDCL, nahm er im Dezember 2019 an der sogenannten Toxi-Tour in Mexiko teil, die vom Transnational Institute TNI in Amsterdam und der Nationalen Versammlung der Umweltgeschädigten ANAA in Mexiko organisiert wurde. Das Interview mit ihm führte Gerold Schmidt.
Was hatte es mit der Toxi-Tour grundsätzlich auf sich?
Es ging darum, Akteure aus verschiedenen Ländern zum selben Thema zusammenzubringen. Hintergrund ist die internationale Arbeit für einen Binding Treaty, ein verbindliches UN-Abkommen über Wirtschaft und Menschenrechte einschließlich des Rechtes auf Gesundheit und saubere Umwelt. In der gut 30-köpfigen Delegation befanden sich Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, einige Europaparlamentarier*innen und eine U.S.-Senatorin. Insgesamt nahmen Vertreter*innen aus knapp zehn Ländern teil. Ziel waren unter anderem die industriellen Ballungsgebiete in Mexiko, in denen Konzerne der großen Industriestaaten angesiedelt sind. Es gab Foren zur Umweltproblematik in Mexiko. Vor Ort haben uns lokale Gruppen informiert.
Die Delegation hat „Hotspots“ der Umweltzerstörung in mehreren Bundesstaaten besucht. Vielleicht kannst Du besonders auf den Fall des Río Santiago im Bundesstaat Jalisco sowie die Zone im Bundesstaat Puebla eingehen, wo Volkswagen ein großes Werk hat.
Mehrfach waren wir mit der Belastung von Flüssen und ihrer Umgebung durch Chemikalien konfrontiert. Der Río Santiago hat mich besonders beeindruckt. Dort haben wir eine Schaumdecke gesehen, die praktisch den gesamten Fluss bedeckte und bis zu anderthalb Meter hoch war. Aus DDR-Zeiten kenne ich persönlich die Schauminseln, die auf der verunreinigten Pleiße und der Mulde flossen. Aber einen über Hunderte von Metern mit einer so dicken Schaumschicht zugedeckten Fluss habe ich noch nie vorher zu Gesicht bekommen. Unser Hotel war mindestens einen Kilometer vom Río Santiago entfernt. Selbst im Hotelzimmer hattest du noch diesen Chemikaliengestank in der Nase, fast so wie Formalingeruch.
Blei und Quecksilber im Urin
Im Fall des Río Santiago hatte sich 2009 die Wissenschaftlerin Gabriela Domínguez der Universität San Luis Potosí im Auftrag der staatlichen Wasserkommission des Bundesstaates Jalisco mit der Wasserkontamination und der Belastung der Bevölkerung mit Schwermetallen beschäftigt. Ihr Bericht wurde von den Regierungsbehörden Jaliscos jedoch geheim gehalten. Erst jetzt, nachdem die Behörden das Dokument aufgrund einer Bürgeranfrage im Rahmen des Transparenzgesetzes öffentlich machen mussten, darf Domínguez über die Ergebnisse sprechen: Die Wissenschaftlerin wies weit über der Norm liegende Werte an Blei und Quecksilber in den entsprechenden Trinkwasserreservoirs und auch im menschlichen Urin nach. Es gibt einen weiteren dramatischen Effekt: In psychologischen Studien wiesen die Kinder, die mit diesen Umweltbelastungen aufgewachsen sind, einen um 40 Prozent verringerten Intelligenzquotient im Vergleich zur Normalpopulation auf. Der Río Santiago hat mir nochmal vor Augen geführt: Es ist etwas anderes, als Toxikologe am Schreibtisch zu sitzen und Daten auszuwerten oder vor Ort zu sehen, was eigentlich vor sich geht. Diesen Bedingungen sind die Menschen dort praktisch ihr ganzes Leben lang ausgesetzt, während unsere Delegation dort nur ein paar Stunden verbrachte.
Stichwort Puebla und VW…
In Puebla ging es um die Übernutzung der Grundwasservorräte durch die Automobilindustrie. VW ist das mit Abstand größte Unternehmen im Einzugsbereich der gleichnamigen Landeshauptstadt Puebla und verbraucht enorm viel Wasser. Möglicherweise hält das Stammwerk die Normen sogar ein. Doch im Umfeld des VW-Komplexes befinden sich nach den Angaben der lokalen Initiativen 18 Industrieparks. Sie sind praktisch alle Zulieferer für Volkswagen, stehen also letztendlich unter Vertrag des Konzerns. Wenn wir dies einmal aus der Logik des geplanten Lieferkettengesetzes sehen, dann ist VW mit dafür verantwortlich, dass die Zulieferer die Vorgaben für den Wasserverbrauch einhalten. Letzteres ist offenbar nicht der Fall. Fehlendes oder z.B. aus großen Tiefen kommendes mit Arsen verseuchtes Wasser sind die Folgen. In Puebla wurde uns über gehäufte Fälle von Nierenversagen und Krebserkrankungen berichtet.
Gab es während der Rundreise Kontakt zu offiziellen Stellen, speziell zur seit Dezember 2018 amtierenden Bundesregierung? Wie gehen die neuen Regierungsbehörden mit der Umweltproblematik um?
Es gab einen Vertreter des Umweltministeriums SEMARNAT, der an zwei Foren im Rahmen der Toxi-Tour teilgenommen hat. Es war durchaus die Hoffnung da, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Es ist während der Reise ganz klar geworden, dass die neue Regierung zur Verantwortung gezogen werden muss und es nicht so weitergehen kann. Wir hatten als Delegation die Gelegenheit, zum Abschluss der Toxi-Tour mit dem Umweltminister Victor Toledo zu sprechen. Für einen Minister machte er einen kompetenten und zugänglichen Eindruck. Er kommt ja aus dem akademischen Bereich und hat sich dort immer wieder für den Umweltschutz eingesetzt. Nun ist er in einer Regierung mit einer sehr widersprüchlichen Umweltpolitik. Er war so ehrlich zu sagen, derzeit könne es nur darum gehen, die schlimmsten Umweltauswüchse der neoliberalen Politik der vergangenen 30 Jahre in Mexiko zu beseitigen. Ob er wirklich etwas bewegen kann, wird sich zeigen müssen.
Aktivist*innen fordern Verhängung des Umweltnotstands
Ohne sich zu viel Illusionen zu machen, sollte die neue politische Situation dazu genutzt werden, die Umweltagenda in Mexiko weiterzubringen. Mit Finanzierung durch den staatlichen Nationalen Rat für Wissenschaft und Technologie Conacyt soll es über das Strategieprogramm PRONACE einen Verbund von zehn Forschungsgruppen geben, in dem sich Akademiker*innen ganz bewusst zusammentun mit lokalen Initiativen.
Die Toxi-Tour kann vielleicht einen Schub geben. Bei den verschiedenen Ortsterminen wurde berechtigterweise immer auch auf die Zehntausende von Verschwundenen, die Gewaltsituation und das Migrationsproblem hingewiesen. Aber während das zumindest mehr oder weniger in den Medien thematisiert wird, ist zum über Jahrzehnte verlaufenden schleichenden Tod von hunderttausenden Menschen in Mexiko wegen der Umweltproblematik kaum etwas in der Öffentlichkeit zu finden. Darum fordern die lokalen Aktivist*innen und die ANAA von der Regierung, in Mexiko einen Umweltnotstand zu deklarieren.
Reise zu den „Hotspots“ der Umweltzerstörung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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