
(La Paz, 17. Februar 2025, bolpress).- Weltweit nehmen Naturkatastrophen zu, verstärkt durch die globale Erwärmung. Auch Lateinamerika leidet zunehmend unter den Auswirkungen des Klimawandels. Die Region kämpft mit geringem wirtschaftlichem Wachstum, sozialen Krisen und einem wachsenden Vertrauensverlust der Bürger*innen in die Demokratie.
Steigende Ernährungsunsicherheit durch Klimawandel
Heftige Klimaveränderungen und Extremwetterereignisse beeinträchtigen immer wieder die landwirtschaftliche Produktion und führen zu sinkender Produktivität. Die Folgen davon sind zunehmender Hunger und Unterernährung: 2023 waren in der Region 41 Millionen Menschen von Hunger betroffen, und jedes zehnte Kind unter fünf Jahren litt an chronischer Unterernährung.
Ein aktueller Bericht der UNO, „Regionaler Überblick über Ernährungssicherheit und Ernährung 2024„, verdeutlicht die drastischen Auswirkungen des Klimawandels. Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme stören die Lebensmittelversorgungsketten, reduzieren die landwirtschaftliche Produktivität und treiben die Lebensmittelpreise in die Höhe.
Lateinamerika und die Karibik sind nach Asien die zweitstärksten von extremen Klimaereignissen betroffenen Regionen. Mindestens 20 Länder, also 74 Prozent der untersuchten Staaten, sind häufig von Extremwetter betroffen. Diese Entwicklung gefährdet laut den UNO die Fortschritte der letzten zehn Jahre in der Bekämpfung von Hunger und Unterernährung.
Der Bericht wurde von mehreren UN-Organisationen, darunter die Welternährungsorganisation (FAO), der Internationale Fond für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD), die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO), das Welternährungsprogramm (WFP) und UNICEF, erstellt.
Zwischen 2019 und 2023 (ein Zeitraum, der auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie umfasst) nahm die Häufigkeit von Unterernährung in den von Wetterextremen betroffenen Ländern um 1,5 Prozentpunkte zu. Neben den klimatischen Faktoren verschärfen wirtschaftliche Rezessionen, internationale und lokale Konflikte und soziale Krisen die Situation, besonders für vulnerable Bevölkerungsgruppen, die sich schlechter an die Veränderungen anpassen können.
Hunger ist kein Schicksal
Die Zahl der von Hunger betroffenen Menschen in Lateinamerika und der Karibik lag im Jahr 2023 bei 41 Millionen. Das entspricht einem leichten Rückgang um 2,9 Millionen gegenüber 2022 und um 4,3 Millionen gegenüber 2021. Trotz des leichten Rückgangs der Hungerzahlen gibt es deutliche regionale Unterschiede. In der Karibik stieg die Zahl der Hungernden in den letzten zwei Jahren um 17,2 Prozent, während sie in Mittelamerika mit 5,8 Prozent der Bevölkerung weitgehend konstant blieb.
Auch bei der mittelschweren oder schweren Ernährungsunsicherheit gab es Fortschritte. 2023 lag Lateinamerika zum ersten Mal seit zehn Jahren unter dem weltweiten Durchschnitt. Dennoch bleiben die Zahlen alarmierend: 187 Millionen Menschen (von insgesamt 630 Millionen) sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Laut dem Bericht der UNO ist dieser leichte Abwärtstrend auf die wirtschaftliche Erholung mehrerer südamerikanischer Länder sowie auf Sozialprogramme, wirtschaftliche Anstrengungen nach der Pandemie und neue Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln zurückzuführen.
Besonders ländliche Gemeinden und Frauen sind betroffen. 2022 litten 11,5 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an Wachstumsverzögerungen – weniger als der weltweite Durchschnitt von 22,3 Prozent, aber dennoch besorgniserregend, da sich die Fortschritte verlangsamen.
Ein zentrales Problem ist die mangelnde Erschwinglichkeit gesunder Ernährung. Dies führt nicht nur zu Mangelernährung, sondern auch zu einer Zunahme von Übergewicht und Adipositas, die das Risiko für nicht übertragbare Krankheiten erhöhen. 2023 konnte sich die Hälfte der karibischen Bevölkerung eine gesunde Ernährung nicht leisten. In Mittel- und Südamerika lag dieser Anteil bei rund 26 Prozent. Der Bericht fordert daher gezielte Maßnahmen für besonders betroffene Gruppen.
Agrarreform als Lösung?
Internationale soziale Bewegungen, wie Vía Campesina, setzen sich für eine gerechtere Landverteilung und eine agrarökologische Produktionsweise ein, die Ernährungssouveränität gewährleistet. Dieses Modell steht im Gegensatz zum Agrobusiness, das auf Großgrundbesitz und Export setzt.
Im Januar 2024 bekräftigte die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) die Notwendigkeit einer Agrarreform. Die Reform sei „eine Chance, die Umweltzerstörung, die Konzentration von Reichtum und die soziale Ungleichheit zu überwinden“. In einem von 400 MST-Anführer*innen unterzeichneten Dokument kritisiert die Bewegung das bestehende Agrarmodell und fordert Maßnahmen zur Förderung der ökologischen Landwirtschaft und zur Unterstützung kleinbäuerlicher Produktion.
Dunkle Aussichten für die Zukunft
In einem im Januar 2025 veröffentlichten Dokument bewertet das Entwicklungsprogramm der UN (UNDP) die Realität Lateinamerikas und die Aussichten für 2025. Als zentrale Herausforderungen nennt es: Klimawandel, schwaches Wirtschaftswachstum, geringe Produktivität, strukturelle Ungleichheiten und wachsendes Misstrauen in Politik und Institutionen.
„Der Klimawandel“, betont das UNDP, „ist keine ferne Bedrohung mehr, sondern tägliche Realität.“ Als Beispiel führt die Organisation die häufigen und schweren Dürren an, mit ihren Auswirkungen auf Landwirtschaft, Handel und Energieerzeugung. Wenn sich die aktuelle Entwicklung beim Klima fortsetzt und keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden, so das UNDP, könnten die Belastungen „die Lebensqualität und Resilienz der Bevölkerung gefährden“. Ohne einen deutlichen Wandel wird es in Lateinamerika und der Karibik schon bald in fast der Hälfte der Länder zu Wasserknappheit kommen, mit einer schweren Wasserkrise um das Jahr 2080.
Das UNDP prognostiziert ein Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent, was knapp über dem Vorjahresniveau liegt, aber immer noch unter dem weltweiten Durchschnitt. Das langsame Wirtschaftswachstum, das die Region seit Jahrzehnten kennzeichnet, erschwert die Bemühungen zur Armutsbekämpfung. Haushalte in Städten, die stark von der Dynamik des Marktes abhängig sind, sind besonders anfällig für Wirtschaftskrisen. Und obwohl die Armut auf dem Land nach wie vor höher ist, nimmt sie in städtischen Gebieten schneller zu, was zu neuen Belastungen in Ballungsräumen führt.
Das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 2,5 Prozent bleibt unter dem globalen Durchschnitt und erschwert die Armutsbekämpfung. Besonders städtische Haushalte sind anfällig für Wirtschaftskrisen, und die Armut in urbanen Gebieten nimmt schneller zu als auf dem Land. Zudem bleibt die geringe Produktivität ein Hindernis für wirtschaftlichen Fortschritt. Das UNDP empfiehlt daher Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Technologie. Doch politische Realitäten, wie der Bildungs- und Forschungsabbau in Argentinien, stehen diesen Empfehlungen entgegen.
Ein weiterer Faktor für die tief verwurzelten strukturellen Ungleichheiten in der Region ist die neu entstandene Kluft bei der Digitalisierung. Lateinamerika und die Karibik werden laut UNDP nicht in vollem Umfang von der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz profitieren können, solange Haushalte mit geringerem Einkommen und ländliche Gebiete von einer grundlegenden Infrastruktur wie dem Internet abgeschnitten bleiben. Dies verschärft soziale Ungleichheiten und hemmt den Bildungsfortschritt. Laut PISA-Studie bestehen große Defizite in Mathematik und Naturwissenschaften, die durch fehlende Digitalisierung noch verstärkt werden.
Soziale Ungleichheiten wie die unverhältnismäßig hohe Belastung der Frauen durch Care-Aufgaben schränken deren Möglichkeiten, zum Haushalteinkommen beizutragen, ein.
Nicht zuletzt ist auch das Misstrauen gegenüber dem System und der Politik von Bedeutung. Nach Angaben des UNDP ist das fehlende Vertrauen in demokratische Institutionen auf die anhaltende soziale Ungleichheit zurückzuführen. Wenn der Staat nicht auf die Grundbedürfnisse und Erwartungen der lokalen Gemeinschaften eingeht, neigen diese dazu, ihn zu umgehen. Dies verstärkt die Spaltungen innerhalb eines Landes. Angesichts dieses Misstrauens gegenüber dem demokratischen System wären viele Menschen sogar bereit, radikale Lösungen wie einen Staatsstreich zu rechtfertigen, wenn sich dadurch ihre Lebensbedingungen und ihre Sicherheit verbessern würden.
So vereinen sich verschiedene Krisen zu einer einzigen, auf einem Kontinent, der trotz seines großen Naturreichtums weiterhin schwächelt, auf Agrarexporte angewiesen ist und in einer Abhängigkeitsspirale verharrt. Ohne entschlossene wirtschaftliche, soziale und politische Reformen droht eine Zukunft, in der Armut, Klimakrise und soziale Spannungen weiter zunehmen.
Klimawandel und soziale Krise – Lateinamerika am Scheideweg von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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