(Santiago de Chile, 11.02.2021, cosecha roja).- Im August 2018 senkte sich eine Giftwolke über die Stadt Quintero. 1700 Personen mussten in Krankenhäusern behandelt werden. „Die Kinder fallen reihenweise um“, teilte am Morgen des 21. August 2018 ein alarmierter Lehrer der Präsidentin des Gesundheitsrats im Krankenhaus in Quintero per Telefon mit. Etliche Schüler*innen der polytechnischen Mittelschule in Quintero an der Küste im Zentrum Chiles verloren das Bewusstsein und wurden in Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht. Doch dabei blieb es nicht. „Danach passierte das Gleiche in den Schulen Santa Filomena, Orione und Alonso de Quintero“, erinnert sich die 49-jährige Gesundheitsrats-Präsidentin María Araya. Da es an jenem Tag windstill war, habe sich die Giftwolke in der Innenstadt von Quintero festgesetzt. Innerhalb weniger Stunden kollabierte das einzige Krankenhaus in der „Opfer-Zone“. Nicht nur Kinder waren betroffen: Auch Ältere und Lehrer*innen erlitten Brechanfälle, Kopfschmerzen und Gefühlsstörungen in Armen und Beinen.
Gesundheitsgefährdung in Opfer-Zonen
In den 60er Jahren wurde in den Kommunen Quintero und Puchuncaví ein Industriegebiet hochgezogen. Die Region gilt als „Opfer-Zone“, eine Region, die ohne Rücksicht auf Menschen und Umwelt verschiedenen Industrien zur Nutzung und Verschmutzung überlassen und dem nationalen Wirtschaftswachstum „geopfert“ wurde. Im „Tschernobyl Chiles“, wie die Region nach dem Vorfall von der internationalen Presse getauft wurde, sind allein 19 Firmen im Bereich der Energiegewinnung tätig und kontaminieren das Wasser, das Land und die Luft, die die Menschen atmen. „Wer in einer Opfer-Zone lebt, muss mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen rechnen, darunter verschiedene Krebsarten und Hirntumoren“, erzählt María. Ihre älteste Tochter, die heute 30 Jahre alt wäre, starb vor neun Jahren an einem Gehirntumor. „Bei meiner Tochter hat es ganze 27 Tage gedauert, bis sie tot war. Eines Tages kam sie nach Hause und hatte Sprachstörungen (…). Zu dem Zeitpunkt wollte ich nicht weiter nachhaken (…). Damals waren wir uns alle noch nicht so richtig bewusst über die Folgen der Verschmutzung.“
Taubheitsgefühle und Atemnot
Als sich dann vor zwei Jahren die Gilftwolke über die Stadt senkte, wusste Maria, eine starke Persönlichkeit mit 20-jähriger Berufserfahrung in leitenden Positionen, nicht mehr ein noch aus. „Ich sah die Eltern mit ihren kranken Kindern, die nicht die leiseste Ahnung hatten, was das alles zu bedeuten hatte. Ich sah sie und verstand ihre Verzweiflung“. Zu Hunderten suchten Bewohner*innen aus Quintero und Puchuncaví die Krankenhäuser auf. Die Regierung sah sich gezwungen, ein improvisiertes Krankenhaus in Zelten einzurichten. Sofort brachen die Proteste los. Jugendliche blockierten die Straßen, campierten auf zentralen Plätzen. Es gab öffentliche Versammlungen. Anwohner*innen druckten Flugblätter. Eine der Forderungen war die Schließung des Industriegebiets, „bis geklärt ist, in welchem Umfang die Firmen für die Vergiftungen der Menschen verantwortlich sind.“ Die Tage vergingen, ohne dass die Firmen geschlossen wurden. Währenddessen stieg die Zahl der Betroffenen. Eine weitere Tochter von María, eine junge Frau von 26 Jahren, begann, über Beschwerden zu klagen. Ihr war übel, und sie fühlte weder Hände oder Beine noch Gesicht. „Sie war verzweifelt, also brachte ich sie ins Krankenhaus. Sie bekam Infusionen und etwas für den Magen, aber die Taubheitsgefühle blieben. Erst nach drei, vier Stunden setzte die blutreinigende Wirkung der Infusion ein, und die Beschwerden gingen zurück.“ Die 62-jährige Emilia Palma (62), Ziegenzüchterin aus Quintero, berichtet, wie sie am 23. August 2018 ihren 16-jährigen Enkel von der Schule abholen musste, weil „er seine Beine nicht spürte. Im Krankenhaus musste er künstlich beatmet werden, weil noch Atemnot dazukam. Es war schrecklich“. Zur gleichen Zeit bekam sie einen Anruf von ihrer Tochter, die gerade mit ihrem 6-jährigen Kind auf dem Weg zum Arzt war. „Die Kleine hatte Herzrasen und Atembeschwerden“. Eine Woche darauf erkrankte das dritte Enkelkind. Die 12-Jährige wurde mit Brechanfällen und Kopfschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Bei allen drei Geschwistern wurden Gastritis und Kopfschmerzen diagnostiziert. „Das haben sie ungefähr zu allen Vergifteten gesagt, aber die eigentliche Ursache waren die giftigen Emissionen der Firmen“, beharrt Emilia. Die medizinischen Stellungnahmen bezogen sich nur auf die Symptome, aber nicht auf die Ursachen. Zwei Jahre später weiß Emilia immer noch nicht, woran genau ihre Enkel erkrankt waren, und auch die Regierung bleibt die Antwort schuldig.
Gesundheitsministerium gibt schwammige Erklärung
Erst nachdem der Präsident am 27. September den gesundheitlichen Alarmzustand ausrief, waren die Unternehmen gezwungen, ihre Emissionen zu reduzieren. 38 Tage nach dem Auftreten der ersten Vergiftungsfälle begann die Situation, sich langsam zu entspannen. Nach offiziellen Zählungen wurden innerhalb von etwas mehr als drei Monaten 1770 Personen aufgrund von Vergiftungserscheinungen behandelt. 63% davon waren jünger als 20 Jahre. Als unter Berufung auf das Transparenzgesetz eine öffentliche Stellungnahme gefordert wurde, ging das Gesundheitsministerium mit einer schwammigen Erklärung an die Öffentlichkeit: Nach Auskunft der Ärzt*Innen handle es sich um „ein unspezifisches Krankheitsbild mit überwiegend neurologischen Beschwerden bei fast allen betroffenen Patient*innen“. Doch wodurch wurden diese Symptome hervorgerufen? Am 21. August 2020 erklärte Francisco Álvarez aus dem Ministerium in einer Videokonferenz: „Wir haben alle Hintergründe und Informationen zur Verfügung gestellt, die die Staatsanwaltschaft benötigt, um die Ursachen dieses bedauernswerten Vorfalls zu ermitteln.“ Herauszufinden, was die Menschen krank gemacht hat, sei Sache der Staatsanwaltschaft, einer eigenständigen Behörde, die für die Untersuchung von Straftaten zuständig ist, und nicht Aufgabe des Ministeriums, „das für die Gesundheit der Menschen Sorge zu tragen hat.“ Im Moment konzentrieren sich die Ermittlungen auf die Nationale Erdölgesellschaft (ENAP). Letztes Jahr wurden sechs Führungskräfte für die „unsachgemäße Handhabung“ von 140.000 m³ irakischem Rohöl angeklagt. Diese hätte das Austreten von Gasen und die Vergiftung von Menschen verursacht. Für Maria jedoch gibt es nichts mehr, was sie tun kann. „Sie werden nun keine Verantwortlichen mehr finden“, sagt sie enttäuscht. Damals war die Kontamination in den Körpern der vergifteten Personen nicht gemessen worden.
Blei im Blut, Arsen im Urin
Wie das Gesundheitsministerium am 26. August 2020 gegenüber der Zeitung „La Tercera“ mitteilte, ist eine Studie mit dem Titel „Gesundheitliche Einflussfaktoren in den Kommunen Puchuncaví, Quintero und Concón“ in Planung. Die Studie, die auf zwölf Monate ausgelegt ist, werde prüfen, ob ein Zusammenhang zwischen den aktuellen Kontaminationen in der Zone und anderen spezifischen Faktoren besteht. Sie umfasse „eine allgemeine Gesundheitsbewertung, klinische und toxische Untersuchungen (Blei im Blut, Arsen im Urin) und die Bewertung von sozial-ökologischen Variablen, die mit den Vertreter*Innen der Gemeinschaft abgestimmt wurden“. Ziel ist es, die Prävalenz, Merkmale und Risikofaktoren für Krankheiten aller Bewohner*innen ab dem 2. Lebensjahr zu untersuchen. Das Ausschreibungsverfahren wurde noch nicht veröffentlicht. Laut dem Ministerium wurden in den drei Kommunen als häufigste Todesursachen akuter Myokardinfarkt sowie Magen- oder Lungenkrebs ermittelt. Außerdem wurden in Quintero bei Kindern im Alter von 0 bis 4 Jahren zwischen 2007 und 2016 auffällig viele akute Atemwegserkrankungen diagnostiziert. In Puchuncaví stieg die Zahl der Krebserkrankungen um 33,3 %.
„Die Wolke ist immer da“
Obwohl die Region nicht aufgrund des Corona-Virus unter Quarantäne gestellt ist, versuchen die Bewohner*innen, soviel wie möglich zu Hause zu bleiben. Sobald die Windbedingungen „ungünstig“ sind, tritt ein von der Regierung erstelltes Protokoll in Kraft, das den Firmen auferlegt, ihre Emissionen zu reduzieren. So sieht es das 2019 in Kraft getretene Dekontaminationsprogramm vor. Zwischen dem 1. und 14. Dezember war das Protokoll zwölf Tage lang für je zehn, acht oder sechs Stunden aktiv. Denn wenn kein Wind aufkommt, kann die Wolke erneut über Quintero herunterkommen. „Die Wolke ist immer da. Die Frage ist nur, mit welcher Dichte, und ob der Wind sie abhält“, erklärt María. Seit dem 10. Juni 2019 haben keine weiteren Vorfälle stattgefunden. Und jetzt gibt es im Krankenhaus einen Handlungsplan „für den Fall ein, dass es zu neuen Zwischenfällen kommt“, so das Ministerium.
Einige Menschen hätten beschlossen umzuziehen, erzählt Maria, sie jedoch werde bleiben und Widerstand leisten. „Ich werde so lange weitermachen, bis ich nicht mehr kann. Die Natur ist weise und findet Möglichkeiten, sich zu erholen. Dem menschlichen Organismus ist das verwehrt. Die Krankheiten bleiben“. Aus diesem Grund werde sie zusammen mit anderen lokalen Organisationen für eine bessere Lebensqualität für alle kämpfen und neue und bessere Umweltvorschriften fordern. Zum anderen sollen sich Unternehmen, die aufgrund ihres Alters nicht über eine Betriebsgenehmigung nach Umweltschutzstandard verfügen, einer Bewertung unterziehen. „Ich möchte, dass die Kinder ohne Sorgen spielen und sich draußen aufhalten können. Dass sie überhaupt eine Zukunft haben. Denn wenn es so weitergeht, haben wir hier bald ein zweites Tschernobyl.“
Übersetzung: Sezer Yasar
Giftwolke über Quintero: ein zweites Tschernobyl? von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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