(Rio de Janeiro, 9. August 2018, taz).- Brasilien ist seit dem Jahr 2008 Weltmeister im Einsatz von Agrargiften. Ein Fünftel aller Pestizide und Unkrautvernichtungsmittel weltweit werden über Feldern des südamerikanischen Landes versprüht. Jüngst belegte eine Studie die Auswirkungen für die Menschen in Brasilien: Obst und Gemüse sind extrem belastet, vor allem Tomaten und Paprika. Jeden Tag werden laut offiziellen Zahlen acht Menschen durch Pestizide vergiftet, wobei die Dunkelziffer 50 Mal höher liegt.
Inzwischen sollen zwei Prozent aller Gesundheitsprobleme in Brasilien auf den Einsatz von Giften in der Landwirtschaft zurückzuführen sein. Möglich wird der Missbrauch durch äußerst lasche Gesetze. Bei Trinkwasser erlauben die Behörden eine 5.000 Mal höhere Belastung als beispielsweise die Europäische Union. Beim Anbau von Soja oder Bohnen dürfen brasilianische Landwirte 200 bis 400 Mal soviel Gift auf die Pflanzen sprühen als ihre europäischen Kollegen.
Angesichts der starken Lobby der Agrarier*innen im Kongress und in der Regierung ist Besserung kaum zu erwarten. Jeder Versuch, den Giftmarkt zu regulieren, wird mit dem Argument abgeblockt, dass Agrargüter das wichtigste Exportprodukt sind und aufgrund der effizienten Produktion eine vorbildliche Wirtschaftsleistung erbringen. Doch eine überraschende Gerichtsentscheidung könnte jetzt eine Debatte um Giftmissbrauch entfachen – insbesondere über das von der Bayer-Tochter Monsanto produzierte Glyphosat, das auf Millionen Hektar Pflanzungen mit Gensoja oder -mais angewandt wird.
Panik im Agrobusiness
Eine Bundesrichterin in der Hauptstadt Brasilia erließ Anfang August erstmals Auflagen für die Nutzung des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels. Demnach dürfen neue Produkte, die Glyphosat enthalten, vorerst nicht mehr vermarktet werden. Und bestehende Zulassungen der Chemikalie sollen für die Dauer eines Monats ihre Gültigkeit verlieren. Die Weisung gilt auch für das Insektenvernichtungsmittel Abamectin und das Anti-Pilz-Mittel Thiram. Mit diesem Ultimatum will das Gericht die dem Gesundheitsministerium unterstellt Nationale Agentur für Sanitärkontrolle (Anvisa) zwingen, so schnell wie möglich die Richtlinien für den Einsatz dieser drei Agrargifte zu überarbeiten.
Grundlage des Urteils ist eine Klage der Staatsanwaltschaft gegen Anvisa, die striktere Regeln für den Umgang mit Giften fordert. Vertreter*innen des Agrobusiness reagierten entsetzt. „Wenn diese Entscheidung nicht gekippt wird, kommen ernsthafte Probleme auf uns zu“, sagte Luiz Lourenço, Direktor des Brasilianischen Verbands der Agrarindustrie Abag. Es handele sich um eine ideologische Entscheidung, die einen großen Rückschritt auslösen könne.
„Wer solche Urteile innerhalb der Justiz fällt, weiß nicht, wie die industrielle Landwirtschaft in Brasilien funktioniert“, ergänzt der Lobbyist Luiz Carlos Correa Carvalho. Laut Abag ist 96 Prozent des in Brasilien angebauten Soja genetisch manipuliert und ist auf Glyphosat oder noch stärkere Gifte angewiesen. Der Verband kündigte Berufung an, um „Unheil für den Sektor abzuwenden“.
Glyphosat wird von Umweltverbänden für das Artensterben und die Entstehung resistenter Unkräuter verantwortlich gemacht. Zudem besteht der Verdacht, dass die Chemikalie Krebs auslöst. Während in Deutschland heftig über den Einsatz von Glyphosat gestritten wird, gibt es in Brasilien, aber auch in Nachbarländern wie Paraguay und Argentinien kaum wirksame Kontrollen. Von den 504 Agrargiften, die laut einer Untersuchung des Agrarlaboratoriums der Universität von São Paulo (USP) in Brasilien eingesetzt werden, sind über 150 in der EU verboten. „Die Verkaufsschlager bei uns sind just die Mittel, die in Europa teils seit über zehn Jahren verboten sind“, sagt Larissa Mies Bombardi, Autorin der Studie ‚Geografia do Uso de Agrotóxicos no Brasil e Conexões com a União Europeia‚.
Agrarlobby läuft Sturm gegen Glyphosat-Verbot von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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