
(Berlin, 8. April 2025, poonal/ReGA). – Marcela Perelman, die Leiterin des Recherchebereichs bei der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS, spricht im Interview mit Ute Löhning über die Polizeigewalt am 12. März 2025 und die gemeinschaftliche Recherchearbeit zur Rekonstruktion der Ereignisse, wobei zwei Videos mit den Ergebnissen der Recherche veröffentlicht wurden.
Am 12. März ging die Polizei in Buenos Aires gewaltsam gegen eine Demonstration von Rentner*innen vor. Dabei wurde der Fotograf Pablo Grillo lebensgefährlich verletzt. Bevor wir über die Recherchen deiner Organisation CELS zu den dafür Verantwortlichen sprechen, beschreibe bitte, was an diesem Tag geschah.
Jeden Mittwoch demonstrieren auf der Plaza del Congreso im Zentrum von Buenos Aires Rentner*innen für bessere Lebensbedingungen. Die Polizei geht teils sehr brutal gegen sie vor. Ein Rentner, der Anfang März von der Polizei verprügelt wurde, trug das Trikot eines Fußballvereins. Daraufhin beschlossen die Mitglieder dieses Vereins aus Solidarität, am darauf folgenden Mittwoch mit den Rentner*innen zu demonstrieren. Die Regierung stellte sie als gewalttätige Hooligans dar und erzeugte mit einem kriegerischen Diskurs im Voraus bereits ein sehr raues Klima.
Am 12. März ließ die Polizei die Demonstration nicht einmal beginnen. Das war eine repressive Präventivmaßnahme, die darauf abzielte, den Protest zu verhindern. Es kam zu massiven polizeilichen Übergriffen. Ein Polizist schubste eine 87-jährige Frau rückwärts zu Boden, sie wurde am Kopf verletzt. Polizisten hielten zwei 12-jährige Jungen fest, die aus der Schule kamen und einen wegen der Demonstration umgeleiteten Bus suchten. Sie fesselten ihre Hände, informierten die Eltern nicht, ließen sie nicht zur Toilette gehen.
Das Extremste war sicherlich, dass Kräfte der föderalen Nationalgendarmerie und der argentinischen Bundespolizei (PFA) Gewehre mit Tränengaskartuschen einsetzten. Einige schossen in die Luft, andere schossen waagerecht und direkt auf die Demonstrierenden. Eine dieser aus einer Schusswaffe abgefeuerten Gaskartuschen, traf den Fotografen Pablo Grillo am Kopf, als er gerade ein Foto in Richtung der Polizei machte. Er wurde lebensbedrohlich verletzt, seine Schädeldecke zertrümmert, er verlor Gehirnmasse. Erste Hilfe leisteten andere Demonstrierende, nicht die Polizei. Pablo Grillo schwebte tagelang zwischen Leben und Tod. Glücklicherweise gibt es Anzeichen einer Verbesserung, sein Zustand ist aber immer noch sehr kritisch.
Gab es nach dem Ende der Diktatur vergleichbare Fälle von Polizeigewalt in Argentinien?
Ja, in Argentinien gab es seit den 1990er Jahren mehrere Fälle von Polizeigewalt, teils sogar mit Todesfolge. 2007 nahm der gewerkschaftlich organisierte Lehrer Carlos Fuentealba an einem sozialen Protest in der Provinz Neuquén teil. Er wurde bei einem Einsatz mit der gleichen Waffe, die auch jetzt verwendet wurde, getötet.
Viel Beachtung fand die Ermordung der Demonstranten Maximiliano Kosteki und Darío Santillán im Juni 2002 am Bahnhof Avellaneda, an der Grenze zwischen der Provinz Buenos Aires und der Hauptstadt. In diesem Fall war es möglich, eine Falschdarstellung der damaligen Regierung zu entlarven. Daraufhin beschloss der damalige Interimspräsident Eduardo Duhalde, die Wahlen vorzuziehen und beendete seine Regierung.
Eine der politischen Lektionen daraus war, dass die Regierung diese Art der Gewalt nicht zulassen oder besser gesagt nicht durchhalten konnte. Denn sie wurde von der argentinischen Gesellschaft als politische Gewalt interpretiert und mit jahrelanger Unterdrückung der Zeit der Diktatur 1976 bis 1983 assoziiert. Ob diese Wahrheit oder politische Haltung im heutigen Argentinien noch gilt, werden wir jetzt sehen.

Das CELS und andere Organisationen haben nach dem 12. März recherchiert, wer auf Pablo Grillo geschossen hat. Wie habt ihr das gemacht?
Das CELS hat mit anderen Gruppen kooperiert, darunter Mapa de la Policía, die Übergriffe der Polizei dokumentieren, und AHORA, ein Historisches Archiv über Repressionsmaßnahmen in Argentinien.
Wir haben Erfahrung aus anderen Fällen, und wissen, wie solche Polizeiaktionen ablaufen. Und wir wissen [aus der Geschichte Argentiniens], wie wichtig es ist, falsche Darstellungen der Ereignisse schnell zu widerlegen. Deshalb haben wir Fotos und Videos von Reporter*innen gesammelt, die bei der Demonstration waren. Mapa de la Policía hat eine Mail-Adresse in den sozialen Medien veröffentlicht und die Community und andere Journalist*innen aufgefordert, ihre Aufnahmen zu teilen. Sehr viele Menschen sind dieser Aufforderung nachgekommen, es gab Aufnahmen dieser Sequenz und der gesamten Operation. Auf einem Video ist die gesamte Flugbahn des Geschosses zu sehen.
Wir konnten das durch Drohnenaufnahmen von einem der wichtigsten Fernsehsender ergänzen. Mit Fotos aus verschiedenen Blickwinkeln konnten wir die Szene rekonstruieren und analysieren.
Mit dem Fachwissen des forensischen Experten Rodolfo Willy Pregliasco, einem Physiker, der schon frühere Fälle von Schusswaffeneinsätzen der Polizei analysiert hattte und eine Schlüsselrolle spielte, und mit dem Engagement von Mapa de la Policía, von AHORA, der Zeitschrift Crisis – um nur einige der beteiligten Gruppen zu nennen – konnten wir in wenigen Stunden in einem kurzen und schlüssigen Video die Flugbahn der Kartusche zeigen, und unbestreitbar klarstellen, dass der Schuss von einem Gendarmen abgegeben wurde. Die Kartusche hat Pablo Grillo direkt in den Kopf getroffen. Sie ist nirgendwo abgeprallt, es war niemand im Weg. Wenn man das Video sieht, ist es offensichtlich.
Es gibt noch ein zweites Video …
Das zweite Video ergänzt das erste Video und ermöglichte uns, den Gendarmen Guerrero als den Scharfschützen zu identifizieren, der auf Pablo Grillo geschossen hat.
Welche Wirkung entfalteten die Videos?
Die Wirkung war sehr stark. Zuerst zirkulierten sie in den sozialen Netzwerken. Sie beeinflussten auch Journalist*innen, die der Regierung nahestehen, die aber – weil sie unsere Rekonstruktion der Ereignisse kannten – die offizielle Version nicht akzeptierten.
Wie ist oder war die offizielle Darstellung der Ereignisse seitens der Regierung?
Die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich sagte, dass Pablo Grillo kein Fotograf, sondern ein politischer Aktivist sei, und dass er einer der Demonstrierenden gewesen sei, die die Polizei angegriffen hätten. Dass der Schuss nicht auf ihn direkt gerichtet gewesen sei, sondern ihn nur getroffen hätte, weil er von einer Blockade abgeprallt sei, die die Demonstrierenden selbst errichtet hätten. Eine Menge Unwahrheiten. Während diese Rechtfertigung der Gewalt im Umlauf kam, war unser Video bereits weit verbreitet.
Die Videos sind auf Instagram zu sehen. Wie wurden sie darüber hinaus verbreitet?
Pablo Grillo ist Fotojournalist und die Journalist*innen und Fotograf*innen in Argentinien sind sehr gut organisiert, in einer Organisation für Fotojournalisten namens ARGRA, in Sipreba, einer Pressegewerkschaft in Buenos Aires, und in dem Verband Fatpren. Das gibt den Medien die Möglichkeit, die Bilder zu teilen und in ihren Redaktionen zu diskutieren, um die Wahrheit und die Fakten zu veröffentlichen. La Nación, eine wichtige Zeitung in Argentinien, vertritt eine sehr konservative Redaktionslinie, aber sie beschäftigt auch Journalist*innen, die sich sehr für ihre Kollegen einsetzen. La Nación hat etwas später einen ausgezeichneten Bericht erstellt, der ebenfalls Fotos aus verschiedenen Quellen zusammenführt und eine sehr klare Infografik enthält, die die gleiche Version der Realität zeigt wie unsere Videos. Dieser Bericht stammte also nicht von einer alternativen Quelle, sondern von einem Mainstream-Medium. Damit war die Möglichkeit, die Fakten zu leugnen, erschöpft.
Wie hat die Regierung dann reagiert?
Die Regierung wechselte ihre Strategie und begann, den Polizeieinsatz zu rechtfertigen. Zum ersten Mal, hieß es seitens der Regierung, was die Gendarmerie getan habe, sei okay, das sei ihre Linie und darauf würden sie bestehen. „Ordnung ist nicht verhandelbar“, sagte Milei und in der gleichen Rede in sehr groben Worten: „Die Guten sind immer die in Blau“, damit meinte er die Polizei. Die Sicherheitsministerin Bullrich sagte, sie habe alle Entscheidungen getroffen. Die Operation habe unter ihrer Leitung gestanden.
Ich habe die Polizeieinsätze gegen soziale Proteste von 1983 bis heute analysiert und kenne die Fälle, in denen es schwere Opfer und Todesopfer gab. Es ist jetzt das erste Mal, dass die Regierung eine solche Operation rechtfertigt und die Verantwortung für alle Entscheidungen in der Operation übernimmt.
Die Polizei, die Gendarmerie, handelt im Rahmen eines solchen Einsatzes nicht allein, sondern es geht um hochgradig politische Entscheidungen. Diese Einsätze folgen einem Muster über die Art der eingesetzten Waffen, dazu wann die Repression beginnt und wie die Gewalt eskaliert wird, zum Beispiel kommen erst die Wasserwerfer, dann Gas, dann Gummigeschosse.
Ihr wollt auch allgemein gegen den Einsatz von Gewehren zum Abschuss von Tränengaskartuschen vorgehen?
Nach den Ereignissen im Jahr 2007 in Neuquén, bei denen Carlos Fuentealba durch einen Schuss einer Gaskartusche getötet wurde, wurde der Einsatz dieser Gewehre in Argentinien verboten. Im Jahr 2011 gab es eine nationale Verordnung, die den Einsatz dieser Gewehre bei sozialen Protesten verbot. Niemand sollte für die Teilnahme an sozialen Protesten sterben müssen. Seit Dezember 2023 gilt diese Regelung nicht mehr. Denn als die aktuelle Regierung ihr Amt antrat, erließ sie ein gegen Straßenblockaden gerichtetes Dekret, was sich faktisch allgemein gegen Proteste im öffentlichen Raum richtet. Mit der Verabschiedung dieser neuen Verordnung wurden alle vorherigen aufgehoben. Damit wurde auch der Einsatz von Gewehren mit Tränengaskartuschen wieder zugelassen. Sie werden als nicht tödliche Waffen bezeichnet. Wenn sie auf den Kopf einer Person abgefeuert werden, sind sie aber potenziell tödlich. Das CELS, das auch die Familie von Pablo Grillo anwaltlich vertritt, wird zusammen mit der Liga Argentina por los Derechos del Hombre (Argentinische Liga für Menschenrechte) Aufklärung der Verantwortlichkeiten des Einsatzes am 12. März bei den zuständigen Gerichten einfordern.
Mit welchen Aussichten blickst du in die Zukunft?
Es scheint mir für Argentinien und darüber hinaus sehr wichtig, Kräfte, Wissen und Erfahrungen zu bündeln. Der Wunsch und die Bereitschaft, etwas zu tun, zieht gleichzeitig auch andere an, sich unseren Strategien und Aktivitäten anzuschließen. Das muss auch auf regionaler und internationaler Ebene geschehen. Es gibt viel auszutauschen, es gibt viel Wissen, das wir gemeinsam aufbauen müssen. Ich sehe das nicht nur als Herausforderung an die lokale Ebene, sondern auch für einen besseren Internationalismus.
Nachbemerkung:
Der Fotograf Kaloian Santos, der am 12. März Bilder von dem Gefreiten Guerrero machte, der auf Pablo Grillo schoss, arbeitet seit 2013 für den argentinischen Staat. Nun hat die Regierung seinen Vertrag nicht verlängert – so wie viele andere Medienschaffende auch.
#fuerzapablogrillo
Dieses Interview entstand in Kooperation mit dem Projekt „Linea B – Researching authoritarian politics between Latin America and Europe“, der ReGA-Newsletter ist zu abonnieren unter: http://tinyurl.com/3c6h83ny
Fotograf angeschossen: Crowdvideos entlarven Falschdarstellung der Regierung von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar