(Berlin, 7. November 2023, npla).- In den Anden Südamerikas gilt das Beziehungsgeflecht unter allen Wesen als Grundlage für eine Weltanschauung, die man als „Ökosophie“ bezeichnen kann. Es geht dabei um die Überwindung eines Dualismus zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt, zwischen Geist und Materie, lebenden und nicht-lebenden Wesen. Der Kosmos ist ein Organismus, der sich in einem labilen Zustand des Gleichgewichts und der Harmonie befindet. Durch die Ausbeutung der Ressourcen durch den Menschen ist dieses Gleichgewicht gestört und kann zu einem Pachakuti, einer kosmischen Umwälzung führen. Der Begriff des Buen Vivir basiert ebenfalls auf der Vorstellung einer Welt, in der alles in einem Beziehungsgeflecht verbunden ist.
Thomas Guthmann sprach mit dem Philosophen Josef Estermann, der sich seit vielen Jahren mit der Philosophie des Andenraums beschäftigt und einen interkulturellen Dialog zwischen Vertreter*innen der beiden Denksysteme einfordert. Andine Weltvorstellungen können einen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leisten.
Thomas Guthmann: Könnten Sie kurz erläutern, was Sie unter Ökosophie verstehen?
Josef Estermann: Der Begriff stammt von Arne Næss. Er hat ihn in den 80er Jahren im Zusammenhang mit der Frage des Umweltschutzes eingeführt. Ich verwende Ökosophie in meiner Publikation zur andinen Philosophie, um das Verhältnis des Menschen zur Natur von einem andinen Standpunkt aus zu bezeichnen und weil für mich der Begriff Ökologie nicht ausreicht, um die epistemische Orientierung im Andenraum zu umfassen.
TG: Welche Vorstellung von Natur liegt dem andinen Denken zugrunde und ist der Begriff Natur überhaupt eine adäquate Umschreibung innerhalb des Wissens der andinen Kosmovision?
JE: In der andinen Kosmovision gibt es nicht die Gegenüberstellung zwischen einem Subjekt oder Objekt, zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten, zwischen dem Kulturellen und dem Natürlichen, wie es in der westlichen Welt vor allem in der Moderne zum Ausdruck kommt. Hier kommt es zu einer Trennung einer geistigen und einer materiellen Welt, einer natürlichen und einer kulturellen Welt. Das hat zur Folge, dass die natürliche Welt zum Reich der Notwendigkeit gehört, wie Hegel das sagen würde, und die kulturelle Welt zum Reich der spirituellen Freiheit und jeweils eine Seite mit männlich und weiblich assoziiert wird. Natürlichkeit wird mit dem Weiblichen in Verbindung gebracht, die Frau wird als natürliches Wesen und der Mann als Geistwesen verstanden. Die Natur als eine Seite innerhalb eines dualistischen Verhältnisses entspricht nicht dem andinen Denken.
TG: In der andinen Philosophie wird der Kosmos oder die Welt als Organismus verstanden und nicht in dualistischen Kategorien gedacht. Wie kann man die Welt als Organismus beschreiben?
JE: Auch in der westlichen Welt gibt es Modelle, die die Welt als Organismus betrachten, die Gaia-Hypothese vertritt zum Beispiel diesen Standpunkt. In der Wissenschaft, in der Philosophie und im technischen Denken ist Europa jedoch ganz klar einen Weg gegangen, wo das Natürliche nur in quantitativer und objektivierter Weise betrachtet wird. Damit ist Natur ausbeutbar geworden und man redet nicht zufällig von natürlichen Ressourcen. Natur sind die Ressourcen und diese stehen dem Menschen zur Verfügung. Mit diesem Denken wird ein Machtverhältnis hergestellt. Natur hat dem Menschen, der die Krönung der Schöpfung ist, zu dienen. Wenn wir das Bild vom Organismus nehmen, so wie die andine Kosmovision die Welt versteht, dann hat alles Leben, und dieses Alles ist in einer umfassenden, kosmischen Ordnung miteinander verbunden. Wenn man es so betrachtet, dann geht es nicht darum, etwas zu reparieren oder auszutauschen, wenn es nicht mehr funktioniert, sondern es geht darum, ein Gleichgewicht zwischen allem herzustellen. Wenn dieses Gleichgewicht gestört ist, wie etwa heute in der Klimakrise, wo wir die Kipppunkte erreichen, kommt es zu einem Pachakuti, einer großen Umwälzung. Der Mensch hat eine besondere Verantwortung in der Erhaltung des Gleichgewichts, ist aber innerhalb der kosmischen Ordnung nur ein Faktor. Wenn der Mensch aber seiner Verantwortung nicht nachkommt, kann es zur großen Umwälzung kommen.
TG: Inwieweit kann ein solches Denken, eine solche Vorstellung der Welt, dazu beitragen, dass wir unser Weltverhältnis neu denken, und so vor dem Hintergrund der Klimakrise neue Wege aufgezeigt werden können?
JE: Das Denken der Welt als kosmische Ordnung, in der alles miteinander zusammenhängt, kann uns helfen, die Zusammenhänge von Phänomenen wie dem Artensterben oder der Klimakrise zu verstehen. Es hilft uns zu begreifen, dass die Auswirkungen, die wir verursachen, wie ein Bumerang zu uns zurückkehren, auch wenn manche Phänomene abstrakt oder weit weg scheinen. Der Mensch kann dazu beitragen, dass die Welt im Gleichgewicht ist, oder er kann das Gleichgewicht stören. Es geht also nicht um Reparatur, also technologische Lösungen, sondern darum, das Verhältnis zu dem, was der Westen Natur nennt, zu verändern. Es geht darum, eine Versöhnungshaltung einzunehmen und Natur nicht als etwas Fremdes oder gar Feindliches zu betrachten, etwas, das domestiziert und unterworfen werden muss. Vom Verständnis der Kosmovision her gedacht hängt nicht alles vom Menschen ab. Wir haben zwar eine wichtige Funktion und Verantwortung, sind im Korrelat des Kosmos aber nur ein Faktor. Natürlich müssen wir das Problem ernst nehmen, aber wir sind nicht die Krone der Schöpfung und stehen nicht im Mittelpunkt der Welt, wie es der Anthropozentrismus behauptet. Es wäre gut, hier die eigene Position zu relativieren und gelassener zu sein, das ist eine Perspektive, die uns das Denken der andinen Kosmovision geben kann. Eine solche Position kann eine Entschleunigung und die Zurücknahme der Wachstumsorientierung mit sich bringen, die zum Buen Vivir, dem guten Leben, führen kann.
TG: Wenn ich das richtig verstehe, hat der Vorschlag, sich nicht ins Zentrum zu stellen, zwei Dimensionen: Die eine ist, wenn wir uns nicht so wichtig nehmen, müssen wir weniger konsumieren, weil wir nicht immer mehr haben müssen, um unsere Wichtigkeit bestätigt zu sehen. In der zweiten Dimension bedeutet das, dass wir auch nicht die Verantwortung tragen, weil uns das vor dem Hintergrund der Dimension, die die Klimakrise hat, überfordert. Besteht aber in der zweiten Dimension nicht die Gefahr, dass wir einfach so weitermachen können, weil wir keine Verantwortung haben?
JE: Das wäre die zynische Variante. Wenn wir uns selbst nicht ins Zentrum stellen, heißt das nicht, dass wir von der Verantwortung befreit sind, die (kosmischen) Zusammenhänge zu begreifen und darauf zu reagieren. Es geht aber darum, das System der Ökologie als ein System zu begreifen, das man in seiner Gesamtheit betrachten muss (also als Ökosophie). Eine Reaktion auf die Feststellung der Grenzen des Wachstums, die der Club of Rome bereits in den 60er und 70er Jahren angemahnt hat, war, wir müssen die Umwelt schützen. Aus der Perspektive der andinen Philosophie ist die Aufgabe aber nicht, die Umwelt zu schützen sondern zu prüfen, ob unser Handeln kompatibel mit dem Kosmos ist, kompatibel mit den kommenden Generationen, mit den Ahnen – und ist es mit der Geisteswelt kompatibel, ist es vereinbar mit einem Ganzen. Falsches Handeln kann dazu führen, dass ein Tumor im Organismus (eben dem Kosmos) entsteht, der den Körper schädigt und zum Tod führen kann. In diesem Sinne tragen wir schon Verantwortung für unser Handeln, weil es Konsequenzen hat. Deshalb ist jeder kleine Beitrag, der zur Kompatibilität beiträgt, wichtig. Jedes einzelne Handeln kann, zusammen mit allem anderem Handeln, was Großes ergeben.
TG: Welchen Beitrag kann die westliche akademische oder wissenschaftliche Welt hier leisten?
JE: Ich denke, es braucht im Westen akademische Demut, die die eigene techno-wissenschaftliche Perspektive zurückstellt, die zu einem mechanistischen und quantitativ orientierten Weltbild geführt hat. Ich würde hier den Begriff epistemische Gewalt einführen, weil man die eigene Form der Wissensgenerierung in den Vordergrund gestellt hat und die anderen Formen nicht anerkannt hat. Es ist an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und andere Zugänge zur Welt, analoge, symbolisch-repräsentative, rituelle, magische Zugänge, die die Aufklärung als Wissen ausgegrenzt hat, anzuerkennen. Man müsste sich und seine Überzeugung zurücknehmen, dass nur die Art und Weise, wie der Westen Wissenschaft betreibt, zu Fortschritt führt. Dann müsste man lernen zuzuhören und mit den anderen Wissenssystemen, wie der andinen Kosmovision, in einen Dialog treten. Das heißt auch zu debattieren, was Wissenschaftlichkeit überhaupt ist. Erstaunlicherweise gibt es aktuell Ansätze in den Naturwissenschaften, wie der Physik, wo plötzlich in Bezug auf Chaostheorie oder Komplementaritätstheorie oder die bereits erwähnte Gaia-Hypothese gesagt wird, dass es die ganz harten unumstößlichen Fakten gar nicht gibt. Heisenberg sagt das ja, es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern es gibt ganz unterschiedliche Zugänge zur Wahrheit. Das wäre eine Lernphase, nicht das erste Wort zu haben, sondern zuerst zuzuhören und dann in einen Dialog zu treten.
Josef Estermann hält am Mittwoch, den 15. Nov., 16-18 Uhr an der Evangelischen Hochschule einen Vortrag zum Thema: Ökologische Gerechtigkeit als kosmisches Gleichgewicht. Gedanken zur Ökosophie aus den Anden Südamerikas. Der Vortrag findet im hybriden Format statt. Online ist über diesen Link eine Teilnahme möglich.
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