(Buenos Aires, 17. April 2024, canalabierto) – „Kampf gegen die Grausamkeit“ nannte die Anthropologin Rita Segato ihren von der Bewegung Ni una menos organisierten Vortrag, der letzte Woche in der Aula der Gewerkschaft ATE stattfand. Vor vollem Haus analysierte Segato den historischen Moment, seine Ursachen und die „Pädagogik der Grausamkeit“, ein Begriff, den Segato in ihrem Buch „Wider die Grausamkeit“ (deutsche Fassung erschienen 2021) erklärt: „Als Pädagogik der Grausamkeit bezeichne ich alle Handlungen und Praktiken, die uns Menschen lehren, daran gewöhnen und uns darauf programmieren, aus allem Lebendigen und Vitalen Dinge zu machen. Diese Pädagogik vertritt etwas, das weit über das Töten hinausgeht, sie lehrt, entritualisiert zu töten, sie lehrt einen Tod, der kaum etwas übriglässt, die Stelle, wo das vergangene Leben sein müsste, ist quasi nicht mehr zu erkennen.“
Die fühlbare Seite des Kapitalismus
Das Buch enthält eine Zusammenfassung ihrer Vorlesungen an der Facultad Libre de Rosario im August 2016. Darin bezieht sich die Denkerin mit dem Begriff der Grausamkeit auf ein Element, das sich innerhalb der Sphäre des Erträglichen ausbreitet und alle Sensibilität vernichtet: eine fühlbare Ergänzung zu einem Kapitalismus, der den Reichtum in den Händen einiger Weniger konzentriert, Menschen ausgrenzt und uns täglich einredet, dass diese nicht einmal Empathie verdienen. Bezogen auf die Situation der politischen Krise erklärt Segato: „Ich habe sozusagen intuitiv davor gewarnt, dass hier etwas nicht stimmt, dass etwas nicht klappen wird. […] Wir müssen die grundlegenden Versäumnisse unserer Staaten in Lateinamerika korrigieren. Wenn wir das nicht tun, fällt uns das auf die Füße.“
Chronologie der Grausamkeit
„Wir leben im Jahrhundert des Neids, des Grolls, des Unmuts. Die Stimme für Milei ist die Stimme des Grolls. Worauf? Auf die Tatsache, dass weder die Versprechen der Moderne noch die der Demokratie erfüllt wurden. […] Mileis Regierung ist wie der Sandkasten am Ende einer Rutschbahn aus Enttäuschung, und die Grausamkeit, diese Missachtung des Lebens steht im Mittelpunkt seiner Rhetorik. […] Wir alle sind dieser Pädagogik der Grausamkeit ausgesetzt. Die Toleranzschwelle für das Leid der anderen verändert sich. Manchmal erlebe ich, dass die Grausamkeit etwas schlichten Formeln interpretiert wird: Es gibt eben Menschen, die schlecht sind und damit auch grausam. Aber das hat eine Vorgeschichte. […]
Das Leiden benennen
„Wir müssen uns nicht nur über die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern Gedanken machen, sondern auch über die Ungleichheit zwischen den Ethnien. […] Wir müssen grundlegende Versäumnisse korrigieren, und das gilt für die Staaten in ganz Lateinamerika. Wenn wir das nicht tun, werden diese Staaten weiterhin misstrauisch sein und uns hintergehen, und dieses Problem führt uns im Kreis.“ Segato lebte lange Zeit in Brasilien und bekam die Anfänge des Bolsonarismo mit. Man habe die Zunahme der Grausamkeit körperlich spüren können wie ein tödliches Gift. „Sie vergiftet die Luft, die wir atmen. Gibt es ein Gegenmittel? Ja. Den Humor.“ Und: „Reden. Ich glaube, dass Denken und sich Austauschen hilft. Das hat gefehlt: die Kommunikation, das Bemühen, Dinge zu benennen. Wir alle bemühen uns immerzu um ein Leben, das frei von Leid ist. Wir müssen das Leid benennen, wir müssen es aussprechen. Das Reden rettet uns, glaube ich.“
„Milei ist der Sandkasten am Ende einer Rutschbahn aus Enttäuschungen“ von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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