(Berlin, 15. Oktober 2019, npl) Seit Mitte der 1990er haben Gewalt gegen Frauen* und Femizide in Mexiko erheblich zugenommen. Das „Phänomen Ciudad Juárez“ hat sich auf das gesamte Land ausgebreitet; nirgendwo auf dem lateinamerikanischen Kontinent lebt es sich heute für Frauen so gefährlich wie in Mexiko. Prekäre Lebensbedingungen, beschränkte Zukunftsaussichten, verminderte soziale Mobilität und nicht zuletzt die Zunahme des organisierten Verbrechens sind die unmittelbaren Folgen der neoliberalen Agenda. Die systembedingte und systematische Gewalt der letzten 25 Jahre wird begleitet von Straflosigkeit, fehlender Empathie, Ignoranz und Vertuschung seitens des Staats. Anlass zur Hoffnung geben dagegen die aktuellen feministischen Mobilisierungen.
Charlynne, was passiert derzeit in Mexiko?
Wie ihr ja bestimmt wisst, ist Gewalt gegen Frauen in Mexiko ein großes gesellschaftliches Problem, das sich in den letzten 25 Jahren kontinuierlich verschlimmert hat. Statistiken belegen, dass mittlerweile 10 Frauen pro Tag Opfer von Femiziden werden, dazu kommen körperliche Angriffe ohne Todesfolge, Vergewaltigungen, Entführungen, Belästigungen…, die gar nicht erst statistisch erfasst werden. Die Reaktionen des Staats auf Gewalt gegen Frauen bleiben hingegen immer gleich: Vorwürfe werden infrage gestellt, Informationen zurückgehalten und Beweise verschwinden wie von selbst. Die breiten und teils militant geführten Frauen*proteste sind Ausdruck der aufgestauten Wut. Wir haben die Nase gestrichen voll. Im August dieses Jahres gab es einen Fall in Mexiko-Stadt, der landesweit für Empörung gesorgt hat. Vier Polizisten hatten ein junges Mädchen in ihr Auto gezerrt und vergewaltigt. Dass die vier nicht einmal vom Dienst suspendiert wurden, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die landesweiten Proteste wurden von einer neuen feministischen Bewegung organisiert, die größtenteils aus jüngeren Frauen unter 30 besteht. Viele kennen sich aus Hochschulzusammenhängen. Sie sind supergut vernetzt und treten sehr entschlossen auf. Die Proteste am 12. August waren ruckzuck organisiert. Als der Sektetär für städtische Sicherheit in Mexiko-Stadt Jesús Orta an die Öffentlichkeit trat, um die Massen zu beschwichtigen, wurde er mit rosa Glitzerstaub beworfen. Deshalb der Ausdruck „mexikanischer Glitzer“. In kürzester Zeit wurden Fotos im Netz verbreitet, auf denen man sieht, wie der Minister sich den Glitzerstaub vom Kragen wischt. Das hätte eigentlich lustig sein können, aber die Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum sprach von einer schweren Provokation, die auf jeden Fall Folgen haben werde. Dabei war sie es, die provoziert hat. Am 16.8. fanden wieder große Demos statt, diesmal in 30 Städten.
Wie stehst du persönlich zu diesen militanten Aktionen?
Also erstmal: Nach jedem Fußballspiel geht irgendwas zu Bruch. Jedoch von Sachbeschädigungen, die von Männern ausgehen, wird in der Regel keine große Notiz genommen. Da es nun aber Frauen* sind, die Sachen kaputtmachen, Scheiben einschmeißen, Parolen sprühen etc., gab es heftige Reaktionen und Kritik. Zum Beispiel als das Monument der Unabhängigkeit über und über mit Parolen besprüht wurde. Das hat vielen Leuten nicht gefallen. Ich persönlich finde es super, dass unsere Wut zum Ausdruck kommt und wahrgenommen wird. Aber ich habe auch Angst um die Frauen. Natürlich passen alle gut auf, dass sie nicht erkannt werden, tragen Kapuzen und Tücher vorm Gesicht, aber trotzdem. Es werden zum Teil heftige Repressalien angedroht, und ich finde es schlimm, dass Frauen sich erneut selbst gefährden müssen, um die Gefahr, in der wir leben, öffentlich zu machen. Es bleibt aber auch kein anderes Mittel. Natürlich ist die Enttäuschung groß, dass es keine öffentliche Instanz gibt, die für uns eintritt, und über das Einwirken auf Institutionen ändert sich überhaupt nichts. Was ich allerdings auch sehe: Die Berichterstattung fokussiert auf den Skandal, auf die Randale, und unsere Inhalte treten dahinter zurück. Die Presse berichtet kaum darüber, was die Hintergründe dieser Wut sind. Die mexikanische Gesellschaft ist insgesamt durchsetzt von Gewalt. Alle drei Minuten kommt es zu einem sexualisierten Angriff auf Frauen*. Das soll der Öffentlichkeit bewusst sein, nicht, dass irgendwo eine Scheibe zu Bruch geht. Tja, und was mich angeht: Ich bin zwar zu jung, um mich den traditionellen Feministinnen zuzurechnen, die sich in den 70er Jahren für Geschlechtergleichheit eingesetzt haben, da wurde ich nämlich gerade erst geboren. Meine Politisierung hat sich vor allem über das Aufkommen der zapatistischen Bewegung entwickelt. Aber für die aktuellen feministischen Mobilisierungen fühle ich mich ein bisschen zu alt. Also, wenn ich 20 Jahre jünger wäre…, du, dann wäre ich bestimmt dabei (lacht).
In den Protesten drücken sich massive Vorwürfe gegenüber den staatlichen Institutionen aus…
Oh ja, und mit Recht. Als wegen der Gruppenvergewaltigung ermittelt wurde, von der ich gerade erzählt habe, verschwanden Beweise, das Opfer wurde im Nachhinein bedroht, sogar von den Vergewaltigern, denn sie waren ja nicht vom Dienst suspendiert worden. Die Institutionen haben also echt versagt. Der Fall hat in der Öffentlichkeit für viel Wirbel gesorgt, und das ist auch gut so, aber was noch wichtiger ist: Es geht nicht um Einzelfälle, sondern diese Dinge passieren täglich, überall im Land. Anzeigen wegen Vergewaltigung werden nicht besonders ernst genommen es gibt keine ordentliche Untersuchung, keine sorgfältigen Gutachten, Beweise verschwinden, Frauen müssen sich anhören, dass sie den Übergriff provoziert haben – das ganze Programm. Wen wundert‘s also, dass die Zahl der Strafanzeigen so massiv zurückgegangen ist? Die feministische Bewegung sagt deshalb: Ok, wenn die Strafanzeige uns nichts weiter bringt als Ärger, müssen wir uns eben andere Mittel überlegen. Die Hashtag-Initiative hat sehr starken Zulauf, und die Namen vieler Täter werden auch durch Escraches öffentlich gemacht. Das heißt, es geht um gezieltes, anonymes Täterouting, oft verbunden mit Musik, Performances etc. Escraches geht auf eine argentinische Tradition zurück, mit der nach dem Ende der Militärdiktatur gearbeitet wurde, um die Leute aus der Deckung zu holen, die zu Videlas Zeiten schwere Verbrechen und Gewalttaten verübt hatten. Schließlich sollen die Täter bloßgestellt werden, nicht die Opfer.
Aber es gibt doch das Gesetz, das Frauen das Recht auf ein Leben ohne Gewalt zusichert, und die Einstufung als „Bundesstaat mit hohem Gewaltpotential gegenüber Frauen“ (Declaratoria de Alerta por violencia de género), die die Einführung von Präventivaßnahmen zusichert, oder?
Ja, das gibt es alles. In Mexiko ist es unheimlich angesagt, Abkommen auszuhandeln und Gesetze zu entwerfen, aber das hat fast keine praktischen Auswirkungen. Wie ich schon sagte, nach 2006 hat die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen, nicht zuletzt gerade wegen der stärkeren Präsenz von Militär und Polizei in den Landkreisen. Mit der Alerta por violencia de género sieht es so aus: Feministinnen und engagierte Frauen üben Druck auf die Regierung aus, damit der Bundesstaat diese Erklärung unterschreibt, dann gibt es Geld für verschiedene Dinge, mehr Laternen im Park, Schulungen für Strafverfolgungen unter geschlechtsspezifischen Aspekten etc., aber es ändert sich nichts. Das Geld versandet irgendwo, und die Zahl der Gewalttaten steigt weiter, geschlagene Ehefrauen werden zurück nach Hause geschickt wie eh und je, das heißt, all‘ diese Programme dienen hauptsächlich als Makulatur, also, als Beweis, dass Mann sich irgendwie bemüht hat. Und Polizisten sind nicht Beschützer sondern Täter. Deshalb gibt es ja nun auch diesen Hashtag #no me cuidan me violan („sie beschützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“)
Du hast diese Woche in Berlin einen Vortrag über sexualisierte Gewalt an mexikanischen Hochschulen gehalten. Wie ist die Situation für Student*innen in Mexiko?
Die Universitäten wurden von Männern für Männer gemacht, und es geht auch fast nur um Männer. Frauen sind da so eine Art Eindringlinge. Auch heute noch, nach 100 Jahren, ist der Universitätsbetrieb geprägt von Diskriminierung. Die zeigt sich zum einen in der Verteilung der Aufgaben: Während die Verwaltungsarbeiten fast ausschließlich von Frauen erledigt werden, besetzen Männer die Forschungsstellen und basteln an ihrer Karriere. Viele unterrichten nicht einmal, sondern kümmern sich ausschließlich um sich selbst. Zum anderen sind Machtmissbrauch und Willkür gegenüber Student*innen und nicht selten gegenüber Dozent*innen keine Seltenheit. Die Situation an den Hochschulen ist in gewisser Weise ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, und man kann sich fast nicht vorstellen, dass sich das eines Tages nochmal ändert. Dabei ist es so wichtig für die Entwicklung der Gesellschaft, dass in den Bildungsinstituten andere Werte vermittelt werden!
Wie wird an den Hochschulen mit sexuellen Belästigungen umgegangen?
Erst seit ein paar Jahren gibt es dazu Untersuchungen und mittlerweile auch Proteste. Bisher war eigentlich klar, dass Frauen* eigentlich nur sich selber schadeten, wenn sie sexuelle Belästigung durch Dozenten und Professoren öffentlich gemacht haben. Die Männer halten natürlich zusammen, decken und schützen sich gegenseitig, das gilt auch für die männlichen Studenten. Irgendwann kommst du in die Situation, wo du ein Empfehlungsschreiben brauchst, irgendeine Unterschrift, einen Schein oder sonst eine Unterstützung von deinem Prof, und dann hilft dir niemand weiter. Es gab sogar schon Fälle von massiver Bedrohung. Eine Dozentin an der Uni in Mexiko-Stadt hatte das Täter-Outing öffentlich befürwortet, daraufhin wurde der Etat für ihre feministische Forschung gestrichen. Sie und ihre Studentinnen wurden so massiv bedroht, dass sie am Ende Polizeischutz bekamen. Frauen* systematisch zum Schweigen zu bringen hat in unserer Gesellschaft Tradition und dient nicht zuletzt dem patriarchalen Machterhalt. Wir Frauen werden dazu erzogen, nichts zu sagen und in uns selbst die Schuldigen zu sehen. Frauen* einzureden, es sei ihre Schuld, wenn sie Gewalt und Übergriffe erleben, ist ein ganz alter Hut im Patriarchat. Die neue Form der Öffentlichkeit durch die Hashtag-Bewegung setzt genau da an und legt Dinge offen, von denen gerne so getan wird, als existierten sie nicht: sexuelle Übergriffe innerhalb der Familien, Gewalt in Paarbeziehungen, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz etc. Dass dieses Schweigen nun immer häufiger durchbrochen wird und die Frauen Belästigungen öffentlich machen, erzeugt natürlich einen gewissen Druck. Niemand möchte öffentlich beschuldigt werden. Und ich denke, dass wir nur so etwas Grundlegendes verändern können. Darauf, dass die staatlichen Institutionen sich für uns einsetzen, brauchen wir nicht zu warten. Seit den zapatistischen Aufbrüchen in den 90er Jahren hat es meiner Meinung nach keine wirkungsvollen politischen Ansätze mehr gegeben – bis jetzt. Ich bin davon überzeugt, dass die neue feministische Bewegung das Potential hat, gesellschaftliche Veränderungen einzuläuten.
Was ist eigentlich dein Forschungsschwerpunkt an der Uni?
Ich forsche zu alternativen Ernährungsmethoden, traditionellen Lebensmitteln etc. Wenn ich zu Gewalt gegen Frauen forschen würde, würde ich durchdrehen.
Charlynne ist in Oaxaca innerhalb und außerhalb der Universität in verschiedenen feministischen Initiativen aktiv.
Das Interview führte Lui Lüdicke.
Der mexikanische Staat lässt Frauen* im Stich. Interview mit Charlynne Curiel von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
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