Klage wegen systematischem Diebstahl von Babys während der Diktatur

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Thyden González wirft dem chilenischen Staat den systematischen Diebstahl und Zwangsadoption von Tausenden Babys vor. Foto: Chiceaux Lynch via flickr, CC BY-NC-SA 2.0.

(Santiago de Chile, 01. Juli 2024, La Jornada).- Vor etwas mehr als einem Jahr fand der 42-jährige Jimmy Thyden González heraus, dass er nach seiner Geburt gestohlen worden war. Am Montag verklagte der chilenisch-amerikanische Marine deshalb den chilenischen Staat wegen des Verbrechens der Kindesentführung.

Während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) wurden Tausenden von chilenischen Frauen im ganzen Land ihre neugeborenen Babys gestohlen und in illegale Adoptionen gegeben. Nach Angaben der Associated Press schätzt die chilenische Justiz die Zahl der Fälle erzwungener oder illegaler Adoptionen auf etwa 20.000, während Organisationen der Zivilgesellschaft wie Nos Buscamos die Zahl auf mehr als 50.000 betroffene Familien schätzen.

“Zunächst wollen wir damit anfangen, das Problem wahrzunehmen; dass der Staat anerkennt, dass dies passiert ist, dass ein Fehler begangen wurde. Und dann können wir darüber nachdenken, wie die Wiedergutmachung aussehen sollten”, sagte Thyden González, der im vergangenen Jahr den Nachnamen seiner leiblichen Mutter übernommen hat, in einem Interview mit AP in Santiago.

Vor 43 Jahren nahmen Arbeitende eines Krankenhauses in der chilenischen Hauptstadt den Sohn von María Angélica González unmittelbar nach dessen Geburt aus ihren Armen. Später wurde ihr gesagt, das Baby sei gestorben und man hätte sich schon um die Leiche gekümmert.

In Wahrheit wurde das Baby zur Adoption an eine Familie in den Vereinigten Staaten freigegeben; dahinter steht ein dubioses Netzwerk, das eine ganze Reihe illegaler Adoptionen zu verantworten hat. Diese fanden zwar nicht ausschließlich während der Zeit der Diktatur statt, traten aber verstärkt unter Pinochets Militärregime auf.

Ein Wendepunkt in den Ermittlungen

Auch wenn der von Thyden González vor dem Berufungsgericht präsentierte Fall nicht der erste ist, kommt dieser zu einem Zeitpunkt, der einen Wendepunkt in den Ermittlungen zu den jahrzehntealten Adoptionen markieren könnte. Denn am Montag hat der Richter Guillermo de la Barra die Leitung der gerichtlichen Untersuchungen von Kindesentführungen übernommen.

Anwalt Ciro Colombara, ein auf Menschenrechtsfälle mit staatlicher Beteiligung spezialisierter Strafrechtler und der Anwalt, leitet das Verfahren. Er erklärte, dass, auch wenn es noch andere laufende Verfahren gäbe, es sich bei den vorherigen Verfahren um Strafverfahren handele, die auf spezifische Situationen abzielen würden. Die Klage von Thyden González hingegen verfolge eine globale Strategie, da sie eine “systematische Situation anprangert, die über Jahrzehnte andauerte”.

“Neben der individuellen Verantwortung interessiert uns, die Verantwortung des chilenischen Staates zu bestimmen”, also “wird dies eine Diskussion vor lokalen und nationalen Gerichten und eventuell vor Menschenrechtsgerichten auf internationaler Ebene sein”, so Colombara.

Die gerichtliche Untersuchung in Chile begann im Jahr 2017, und bis heute werden vor dem Berufungsgericht in Santiago mehr als 1.200 Beschwerden wegen gestohlener Kinder und illegaler Adoptionen bearbeitet, die meisten in den Vereinigten Staaten und Schweden, so Quellen aus dem Justizministerium gegenüber AP.

Bis heute wurde noch niemand verurteilt.

Der Kinderhandel in Chile fand zeitgleich mit vielen weiteren Menschenrechtsverletzungen während der 17-jährigen Pinochet-Diktatur statt. Diese begann am 11. September 1973 mit einem Staatsstreich und dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Während des De-facto-Regimes wurden nach Regierungsangaben mindestens 3.095 Personen ermordet und weitere Zehntausende gefoltert oder aus politischen Gründen inhaftiert.

2017 leitete der damalige Richter Mario Carroza die gerichtliche Untersuchung des Diebstahls und Verkaufs von Babys ein, doch seitdem gab es keine Fortschritte. Jedoch haben die Ermittlungen seit dem Amtsantritt des linken Gabriel Boric im Jahr 2022 Fahrt aufgenommen, da der Präsident zusagte, die Aufklärung der Umstände dieser Adoptionen voranzutreiben und zu intensivieren.

Das Thema stand im Mittelpunkt des jüngsten Treffens zwischen Boric und dem Ministerpräsidenten von Schweden, Ulf Kristersson, welche während einer Europareise des chilenischen Regierungschefs ein Kooperationsabkommen unterzeichneten, um “den Informationsaustausch voranzutreiben und gemeinsame Maßnahmen zur Bekämpfung der irregulären Adoptionen einzuleiten”.

Mit dem von den Außenministern beider Länder unterzeichneten Abkommen wird zum ersten Mal die Beteiligung des Staats bei den Verbrechen eingeräumt, da das Dokument feststellt, dass “die Unterzeichner anerkennen, dass irreguläre Adoptionen begangen wurden, die schwerwiegende Folgen für das Leben und die Menschenrechte der Opfer und ihrer Familien hatten, insbesondere für das Recht auf Identität”.

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