(Buenos Aires, 2. Januar 2025, anred).- Am Nachmittag des 31. Dezember, kurz vor dem Neujahrsfest, erhielten etwa 50 Angestellte des Kultur- und Erinnerungszentrums Haroldo Conti per WhatsApp die Nachricht, dass „das Zentrum bis auf Weiteres „wegen Umstrukturierung geschlossen wird“. In der Nachricht heißt es, dass die fest angestellten Mitarbeitenden vom Dienst freigestellt werden. Wer keine Freistellung akzeptierte, wurde demnach entlassen.
Das Kulturzentrum befindet sich in den Räumlichkeiten der ehemaligen Ausbildungseinrichtung der argentinischen Marine und dem geheimen Folterzentrum während der Militärdiktatur ESMA (Escuela de Mecánica de la Armada). Hier finden Aktivitäten zur Verbreitung und Förderung von Kultur, Bildung und Menschenrechten statt. Am 2. Januar hielten die Beschäftigten eine Versammlung in ihrer Arbeitsstätte ab. Vor der Tür stand die Bundespolizei, um sie am Betreten zu hindern. „Dies ist ein weiteres Beispiel für die Demontage der Erinnerungspolitik, der Wahrheit und der Gerechtigkeit, für die das Land in der ganzen Welt anerkannt ist“, erklärten die Protestierenden.
„Das Gedächtnis des Landes soll weggefegt werden“
„Dasselbe ist während der Diktatur passiert und wir haben es unter der Regierung Macri erlebt. Die Verwaltung ist wieder mit Polizist*innen besetzt, die mit Listen in der Hand die Entlassungen mitteilen“, sagte Rodolfo Aguiar, Generalsekretär des Verbands der Staatsbediensteten ATE (Asociación Trabajadores del Estado). Er warnte vor der versuchten Schließung des Kulturzentrums Haroldo Conti, des Nationalen Archivs der Erinnerung und anderer Einrichtungen.
Außerdem berichtete er von einer Flut von Entlassungsschreiben im ganzen Land. Der Verband ATE kritisierte die Militarisierung der Räume für Menschenrechtsarbeit, nachdem zu Beginn einer Versammlung in dem Erinnerungszentrum Polizeibeamt*innen aufgetaucht waren. Sie hatten Listen von Mitarbeiter*innen der Menschenrechtsbehörde dabei, um diese über ihre Entlassungen zu informieren.
Am 27. Dezember hatte es bereits eine erste Kundgebung gegen die Entlassungen gegeben, nachdem der Anwalt der Nationalen Menschenrechtsbehörde, Ciro Annicchiarico, gewarnt hatte, dass die Regierung zum Jahresende Kündigungen aussprechen werde: „Am 23. Dezember, als Weihnachtsgeschenk, wurden wir von der Personalabteilung darüber informiert, dass der Justizminister, Mariano Cúneo Libarona, die Kündigung aller befristeten und unbefristeten Arbeitsverträge zum 31. Dezember unterzeichnet hat“, berichtete der Anwalt. Nach Weihnachten trafen dann die ersten Entlassungsschreiben ein.
In dem Aufruf zur Kundgebung heißt es: „Mehr als 2200 Entlassungen, die Gehaltskürzungen für Tausende Arbeitnehmer*innen und die Androhung der Nichtverlängerung von zeitlich befristeten Verträgen. Mit diesen Nachrichten werden die Beschäftigten des Justizministeriums und der Menschenrechtsbehörde die Feiertage verbringen. Das bedeutet das Ende von Dutzenden von Programmen und vor allem das Ausbluten der Menschenrechtsbehörde und die bevorstehende Schließung der Gedenkstätten“, kritisieren die Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften. Sie appellieren: “Helft uns bei der Verbreitung, lasst uns die Erinnerung verteidigen! Keine einzige Entlassung mehr, keine Armutslöhne oder Gehaltskürzungen mehr!“
Annicchiarico ergänzte: „Wir waren diejenigen, die sich mit den Menschenrechtsorganisationen und den Opfern zusammengetan haben; wir waren diejenigen, die die Beleidigungen der Völkermörder und die Anklagen ihrer faschistischen Anwälte ertragen haben“. Argentinien werde für seine Menschenrechtspolitik „weltweit gelobt“ und sei „eine Quelle des Stolzes für das argentinische Volk“.
„Verlassen Sie diese Scheißregierung“
Bei der der Kundgebung Ende Dezember übte Daniel Catalano, ATE-Generalsekretär von Buenos Aires, scharfe Kritik am von Milei beauftragten Leiter der Menschenrechtsbehörde, Alejandro Urroz. Dieser hatte gesagt, dass er mit den Entlassungen durch die Regierung Milei nicht einverstanden sei. Catalano entgegnete: „Wenn Sie damit nicht zufrieden sind, verlassen Sie diese Scheißregierung“.
Der ATE-Generalsekretär Aguiar kritisierte: „Zu Beginn dieses Jahres verschärft sich der Abbau und die Demontage von staatlichen Schlüsselinstitutionen. Dies geschah bereits während der Diktatur und wir haben es während der Regierung Macri erlebt. Die öffentliche Verwaltung ist wieder mit Polizisten besetzt, die mit Listen in der Hand die Entlassungen aussprechen.“
„Die Kettensäge sägt weiterhin ausschließlich bei den Arbeiter*innen und Rentner*innen“
„Viele waren erstaunt, als wir sagten, dass die Kettensäge in eine andere Richtung ansetzen und andere Köpfe abschlagen muss. Die Regierung hat beschlossen, dass dieses Jahr von starken Konflikten im Staat geprägt sein wird. Zurzeit regnet es Entlassungsschreiben. Die Kettensäge sägt weiterhin ausschließlich bei den Arbeiter*innen und Rentner*innen“, fügte der Generalsekretär hinzu. „Für die Staatsbediensteten hat sich die Jahreszahl geändert, nicht aber die Grausamkeit, Verfolgung und Gewalt der Regierung“, so Aguiar. „Nach wie vor gibt es rechtswidrige Erpressung und Entlassungen in großem Stil. Sie wollen das Gedächtnis unseres Volkes auslöschen und jegliche Menschenrechtspolitik zerstören. Wir müssen sie aufhalten. Wir müssen unser kollektives Gedächtnis verteidigen.“
Aktionen zum Erhalt der Menschenrechtseinrichtungen geplant
Die Gewerkschaft hat verschiedene Aktionen zur Verteidigung des Kulturzentrums Haroldo Conti, des Nationalen Archivs der Erinnerung und aller Menschenrechtsorganisationen beschlossen, die durch die von der Regierung betriebene Entlassungs- und Abbaupolitik gefährdet sind.
Am 2. Januar fand eine Versammlung in der Menschenrechtsbehörde im Sitz der ehemaligen ESMA statt. Am 3. Januar gab es eine Messe für die Beschäftigten vor den Toren der Einrichtung. Am 4. Januar war ein Fest „Una Memoria que Arde“ („Brennende Erinnerung“) vor der Kultur- und Erinnerungsstätte geplant. ATE berichtete auch, dass eine neue Reihe von Kündigungsschreiben beim Institut für Soziales der Streit- und Sicherheitskräfte (IOSFA), in den Nationalparks und in anderen staatlichen Institutionen eingegangen ist. Die Gewerkschaft beobachtet weiter einen möglichen Personalabbau in weiteren staatlichen Einrichtungen.
Wer war Haroldo Conti?
Haroldo Conti wurde am 25. Mai 1925 in Chacabuco, Provinz Buenos Aires, geboren. Er war der Sohn von Petronila Lombardi und Pedro Conti, einem ambulanten Händler und Gründer der peronistischen Partei in seiner Stadt. Haroldo Conti war nicht nur einer der größten argentinischen Schriftsteller, sondern auch Journalist, Pilot, Seminarist, Segler, Hochseeschwimmer, Drehbuchautor und Lehrer. Er war Mitglied der Revolutionären Arbeiterpartei PRT (Partido Revolucionario de los Trabajadores) und der Antiimperialistischen Front für den Sozialismus FAS (Frente Antiimperialista por el Socialismo). Conti war auch Vater, Sohn, Bruder, Genosse und Freund. Nostalgie, Entwurzelung, Engagement für seine Zeit und eine vitale Leidenschaft für den Fluss – eine weitere seiner großen Offenbarungen – sind einige der Merkmale, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet haben.
Von Kindheit an interessierte sich Haroldo besonders für die anonymen Lebensgeschichten und für die Erzählungen von Abenteuern der einfachen Bevölkerung. Sein literarisches Werk entfaltete sich in fünfzehn Jahren mit großer Intensität und erhielt viel Anerkennung: von seiner Kurzgeschichte „La causa“, die 1960 vom Times Magazine ausgezeichnet wurde, bis zum Preis der Casa de las Américas, den er 1975 in Havanna für seinen letzten Roman „Mascaró, el cazador americano“ (Mascaró, der amerikanische Jäger) erhielt. 1962 erhielt er den Fabril-Preis für seinen ersten Roman „Sudeste“ (Südosten). Zwei Jahre später wurde ihm der zweite Preis der Stadt Buenos Aires für seinen Erzählband „Todos los veranos“ (Jeden Sommer) verliehen. 1966 erhielt er den Preis der Universität von Veracruz (Mexiko) für seinen Roman „Alrededor de la jaula“ (Rund um den Käfig). 1971 schließlich wurde sein Roman „En vida“ (Am Leben) in Spanien mit dem Barral-Preis ausgezeichnet.
Nur wenige Tage vor seinem 51. Geburtstag wurde seine Arbeit unterbrochen. In den frühen Morgenstunden des 5. Mai 1976, mitten in der zivil-militärischen Diktatur, entführte ihn ein Einsatzkommando aus seinem Haus in Buenos Aires. Seine Leiche wurde nie gefunden. Auf seinem Schreibtisch hinterließ er einen Satz in lateinischer Sprache: „Hic meus locus pugnare est et hinc non me removebunt“ (Dies ist mein Ort des Kampfes und von hier werden sie mich nicht wegbewegen). Quelle: Website des Centro Cultural Conti.
Übersetzung: Annette Brox
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