Für die Barbarei ist Schönheit eine Bedrohung. Zum Mord an Victor Jara

(Bogotá, 16. September 2023, colombiainforma/poonal).- Vor fünfzig Jahren begann mit dem Sturm auf den Regierungssitz La Moneda der Staatsstreich Augusto Pinochets. Nicht einmal eine Woche später starb der chilenische Liedermacher und Künstler Víctor Jara durch die Hand der Schergen des Diktators.

Kindheit auf dem Land

Víctor Lidio Jara Martínez wurde am 28. September 1932 im Süden Chiles im Dorf San Ignacio in der Provinz Ñuble geboren. Sein Vater war Landarbeiter, seine Mutter nahm Gelegenheitsarbeiten an, führte den Haushalt und trat als Volkssängerin bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen auf. Auch zu Hause spielte sie oft Gitarre und sang dazu. So lernte Jara von klein auf die chilenische Folklore kennen. 1944 ging die Familie nach Santiago. Victor besuchte den Schulunterricht des Erlöserordens San Bernardo. Motiviert und inspiriert von seiner Mutter Amanda trat er 1953 in den Chor der Universidad de Chile ein.

 

Regisseur, Musiker, Dozent und Aktivist

Zwischen 1959 und 1961 studierte er Schauspiel und Regie an der Theaterschule der Universidad de Chile. In den folgenden Jahren machte er sich einen Namen als Regisseur, erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen, erntete viel positive Resonanz von der Fachkritik und vom Publikum. Mitte der 1960er Jahre nahm er seine musikalische Arbeit wieder auf und wirkte in Gruppen wie Cuncumén mit. Dabei verband er Musik und Volkstradition mit sozialem Engagement und entwickelte sich zum Wegbereiter der Nueva Canción Chilena. Zwischen 1966 und 1969 war er künstlerischer Leiter der Gruppe Quilapayún und arbeitete mit Inti Illimani, beides wichtige Bezugspunkte der Canción Social. 1969 nahm er mit der Gruppe Quilapayún am Primer Festival de la Nueva Canción Chilena teil und gewann er den Preis für die beste Komposition für sein Lied „Plegaria a un labrador„. Als Liedermacher hatte er einen großen musikalischen Einfluss in ganz Lateinamerika. Ab 1970 unterstützte er die demokratische Regierung der Unidad Popular von Präsident Salvador Allende. „Jetzt, da wir eine Volksregierung haben, fällt uns Kulturschaffenden eine große Verantwortung zu“, erklärte er 1970 in einem Interview. „Die Nueva Canción Chilena verlieh dem gesamten politisch fortschrittlichen Programm der Unidad Popular Kultur und epische Tragweite, und Víctor Jara war ihr wichtigster Vertreter“, schreibt Jara-Biograph Freddy Stock. 1971 schloss sich Jara der Künstlergruppe des Vizerektorats für Erweiterung und Kommunikation der Universidad Técnica del Estado an, wo er die nächsten zwei Jahre bis zu seiner Verhaftung als Dozent arbeitete.

Verhaftung und Ermordung

Am 12. September 1973 wurde Jara während der Arbeit an der Universität von den chilenischen Militärs verhaftet und  ins Estadio Chile verbracht. Die Sportstätte war von den Militärs zu einem Verhaftungs-, Folter- und Mordzentrum umfunktioniert worden. Tausende von Menschen verschwanden während der Pinochet-Diktatur unter ungeklärten und gewaltsamen Umständen, Tausende wurden ermordet, einer von ihnen Victor Jara. Die Militärs folterten ihn stundenlang, verbrannten ihn mit Zigaretten, inszenierten Scheinhinrichtungen, schnitten ihm seine Finger und seine Zunge ab und töteten ihn am 16. September mit 44 Schüssen. Zu diesem Zeitpunkt war Victor Jara 40 Jahre alt. Seine Leiche wurde drei Tage später gefunden. In der Haft schrieb er sein letztes Gedicht:

Wir sind fünftausend

Wir sind fünftausend.

Hier in diesem kleinen Teil der Stadt.

Wir sind fünftausend.

Wie viele sind wir wohl insgesamt, in allen Städten, im ganzen Land?

Hier sind wir zehntausend Hände, die säen und die Fabriken in Betrieb halten.

So viele Menschen, die Hunger, Kälte, Panik und Schmerz ertragen müssen, moralischen Druck, Terror und Irrsinn.

Sechs unserer Leute haben sich im Raum der Sterne verloren. Einer starb, einer bekam so viele Schläge, wie ich nie gedacht hätte, dass man einen Menschen schlagen könnte.

Die anderen vier wollten sich ihrer Ängste entledigen, einer durch einen Sprung ins Leere, ein anderer schlug seinen Kopf gegen die Wand. Alle mit dem starren Blick des Todes.

Wie schrecklich das Gesicht des Faschismus!

Sie führen ihre Pläne aus mit kunstvoller Präzision, alles andere ist ihnen egal.

Blut ist ihre Medaille,

das Töten eine Heldentat.

Ist das die Welt, die du geschaffen hast, mein Gott?

Sieben Tage voller Wunder und Mühen – dafür?

In diesen vier Wänden gibt es nur eine Zahl, die nicht vorankommt.

Die langsam den Tod herbeisehnt.

Doch plötzlich trifft mich mein Gewissen,

und ich sehe diese Flut ohne Herzschlag,

und ich sehe den Puls der Maschinen

und das Militär, sein zuckersüßes, matronenhaftes Gesicht.

Und Mexiko, Kuba, und die Welt?

Sollen sie diese Schmach laut herausrufen!

Wir sind zehntausend Hände, die nichts schaffen.

Wie viele sind wir wohl im ganzen Land?

Das Blut des Präsidenten, unseres Genossen

trifft härter als Bomben und Granatsplitter.

So wie unsere Faust wieder treffen wird.

Gesang, wie schlecht gelingst du mir,

wenn ich Angst singen muss.

Angst, die ich nun erlebe, Angst, die ich nun fühle, im Sterben. Angst,

Mich zu sehen in so vielen Momenten der Unendlichkeit

in diesem Lied, in dem Stille und Schrei einander abwechseln.

Was ich nie gesehen habe, was ich gefühlt habe und was ich fühle, wird den Moment hervorbringen…

Víctor Jara, „Estadio Chile“

Im Jahr 2009 wurde Jaras Leichnam exhumiert, um die Umstände seines Todes aufzuklären. Ende August, fast genau 50 Jahre nach seiner Ermordung, wurden sieben ehemalige Soldaten verurteilt, sechs von ihnen zu 25 Jahren Gefängnis.

CC BY-SA 4.0 Für die Barbarei ist Schönheit eine Bedrohung. Zum Mord an Victor Jara von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert