„Es gibt noch viele Enkelkinder, die gefunden werden müssen“

Abuelas
Kämpft seit fast 50 Jahren für Wahrheit und Gerschtigkeit: Abuela Estela de Carlotto
Foto: Ministerio de Cultura de la Nación via flickr
CC BY-SA 2.0

(Buenos Aires, 24. März 2025, El Salto).- Anlässlich des 49. Jahrestags des Militärputschs in Argentinien sprach die Präsidentin der Organisation Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter von der Plaza de Mayo) mit der Nachrichtenplattform El Salto und kritisierte die Regierung Milei und ihre Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, die die Unterdrückung sozialer Proteste anführt.

Wer ist Estela de Carlotto?

Estela Barnes de Carlotto wurde am 22. Oktober 1930 in Buenos Aires geboren. Als sie zehn Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, wo sie bis heute lebt. Sie war 28 Jahre lang Lehrerin und verheiratet mit Guido Carlotto, einem Chemietechniker, mit dem sie vier Kinder hat: Laura, Claudia, Guido und Remo. Seit 1989 ist sie Präsidentin der Vereinigung Abuelas de Plaza de Mayo. Die Organisation engagiert sich in der Suche nach der Identität der geraubten Enkelkinder, von denen die meisten in den geheimen Haftanstalten der vor genau 49 Jahren in Argentinien eingesetzten Diktatur verschwanden.

Laura, die älteste Tochter von Estela, war Mitglied der Stadtguerilla Montoneros, als sie im November 1977 von einer Sondereinheit verschleppt wurde. Ihr Partner Walmir Oscar Montoya erlitt dasselbe Schicksal. Laura Carlotto war im zweiten Monat schwanger. Im Jahr darauf wurde sie ermordet. Die Militärs übergaben Lauras Leichnam ihrer Mutter Estela Barnes de Carlotto. Kurz darauf erfuhr sie, dass ihre Tochter einen Jungen zur Welt gebracht hatte. Sie schloss sich den Großmüttern der Plaza de Mayo an, um nach ihrem Enkel zu suchen, den sie schließlich 36 Jahre später wiederfand. Im August 2014 bestätigte die Nationale Datenbank für genetische Daten (BNDG) die Identität von Ignacio Montoya Carlotto, heute Musiker, Sohn von Laura und Walmir und Enkel der Präsidentin der Abuelas de Plaza de Mayo.

Mit Estela de Carlotto sind nur noch drei Großmütter am Leben. Die beiden anderen sind Buscarita Roa (87), Vizepräsidentin der Vereinigung, die ebenfalls ihre Enkelin in die Arme schließen konnte, sowie Rosa Tarlovsky de Roisinblit, eine 105-jährige Chilenin, die 2004 ihren Enkel Guillermo wiederfand. 49 Jahre nach dem Militärputsch von 1976 und in einer Zeit, in der die Regierung des rechtsextremen Javier Milei ihre Sparmaßnahmen und ihre repressive Politik verschärft, sprach Estela de Carlotto mit El Salto.

Wie erleben Sie die repressiven Maßnahmen der Regierung in den letzten Tagen, insbesondere im Zusammenhang mit der Demonstration der Rentner*innen und ihren Folgen, mit einigen Verletzten, darunter der Fotograf Pablo Grillo, der noch immer um sein Leben ringt?

Schauen Sie, ich bin mit meinen 94 Jahren schon sehr alt, aber wenn ich zu Hause bin, verfolge ich alle Ereignisse dieser Art und vor allem die Aktion gegen diesen Jungen, der im Krankenhaus liegt. Glücklicherweise scheint er sich von seiner schweren Verletzung zu erholen. Aber wir sprechen hier von einer legalen Regierung, die gewählt wurde. Man sagt: Das Volk hat diesen Mann gewählt, und wenn er nun nicht macht, was von ihm erwartet wird, wird das Volk sehen, was es zu tun hat. Die Rentner*innen, die aus dem Haus gehen und eine Runde drehen, wollen damit sagen: „Hier sind wir und verdienen null Pesos.“ Denn so ist es, der Betrag, den sie zur Verfügung haben, ist erbärmlich gering, es reicht kaum zum Essen. Die Regierung darf sie nicht unterdrücken, vor allem nicht auf die brutale Art und Weise, wie es geschehen ist. Wir müssen anerkennen, dass sie vom Volk gewählt wurde, aber das gibt ihr nicht das Recht, kriminell zu handeln.

Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass die Regierung vom Volk gewählt wurde, aber es ist eine Regierung, die mit einem Diskurs gegen die politische Klasse gewonnen hat und dennoch heute dieses politische Personal einsetzt. Die Ministerin Patricia Bullrich ist ein klares Beispiel einer Politikerin, die alle Regierungen durchlaufen hat und weiterhin ein öffentliches Amt bekleidet.

Natürlich. Nun, ich sage es und stehe dazu, und andere sagen es und die Medien sagen es, dass Bullrich im Gefängnis sein sollte, weil Bullrich Menschen getötet hat. Das hat sie selbst gesagt, und es ist bewiesen. Aber es stellt sich heraus, dass ihre Macht keine Grenzen hat. Sie steht dort, unumstößlich wie ein Baum. Man muss den Willen des Volkes respektieren, sich zu äußern, natürlich nicht mit Gewalt. Aber mit der Stimme eines Volkes, das keine Arbeit hat, das nichts zu essen hat, das kein Zuhause hat. Sie machen ein Land klein. Dieser Mann ist ein Versager und ein schlechter Mensch, weil er sich über uns lustig macht. Er sagt, es gebe keine 30.000 Verschwundenen. Aber was nützt es ihm, das zu sagen? Wo positioniert sich dieser Präsident? Die Abuelas haben immer wirtschaftliche, politische und soziale Unterstützung der gewählten Regierungen erhalten, nur diese verweigert sich. Unser Land macht eine sehr schwierige Zeit durch.

Was denken Sie heute, nach so vielen Jahren des Kampfes, über den Aufstieg rechtsextremer und revisionistischer Regierungen wie der von Milei, auch in anderen Teilen der Welt?

Ihre Diskurse leugnen in unserem Fall den Völkermord an den 30.000 Verschwundenen. Es scheint, wir müssen den Kampf weiterführen. Nach so vielen Jahren. Das Einzige, was uns bleibt, ist, weiterhin zu sagen, dass die Wahrheit dokumentiert ist und dass wir Beweise haben. Und warum sollten wir so schmerzliche Dinge erfinden? Wir wollen ein Land, in dem jeder ein Zuhause hat, in dem er in Würde leben, jeden Tag essen und mit seiner Familie zusammen sein kann. Nun, wir machen einfach weiter, wir sind keine Ketzerinnen, weil wir nach Menschen suchen. Wir sagen die Wahrheit. Und alles, was wir tun, ist, an eine Geschichte zu erinnern, die noch nicht zu Ende ist. Denn wir suchen nach vielen Enkelkindern, die während der Diktaturen gestohlen wurden, die so viel Schaden und so viel Schmerz verursacht haben. Jetzt haben wir eine verfassungsmäßige Regierung, und man sagt, das Volk habe für sie gestimmt. Ja, gut, aber es hat für jemanden gestimmt, der nicht das ist, was man dachte.

Zu dem Angriff auf uns gehören die Entlassungen genauso wie der Versuch, die Gedenkstätten zu zerstören, deren Aufbau so viel Mühe gekostet hat. Ich sehe das im Zusammenhang: Was Sie über die Entlassungen gesagt haben und die Gedenkstätten, wo ebenfalls Personal entlassen wurde. Natürlich, für die Arbeit, die wir leisten, wird kein Cent bezahlt. Aber wir wurden immer vom Staat finanziell unterstützt, weil unsere Organisation logischerweise kein Geld einnimmt, sondern ausgibt. Aber sie tut Gutes, indem sie den Weg zur Wahrheit über die 30.000 Verschwundenen findet. Und die Regierung leugnet diese Zahl. Und die Menschen leiden, denn weil sie entlassen wurden, haben sie keine Arbeit, und weil sie keine Arbeit haben, haben sie zu Hause nichts zu essen. Die alten Leute sagen, dass sie abends einen Tee trinken, mehr nicht. Es herrscht ein großer Schmerz in einem Land, in dem man bloß einen Samen werfen muss, und schon wächst daraus eine Pflanze. Was passiert, ist kriminell. Wenn man also protestiert, … tun wir nichts anderes, als unsere Stimme zu erheben, wir tragen keine Waffen, wir tragen nichts, wir haben nur unser Herz, um mit Schmerz und der Stimme „es reicht“ zu sagen.

Und dieser Kampf hört nicht auf. Die Großmütter haben bereits 139 Enkelkinder gefunden. Können wir in diesem Jahr auch in dieser Hinsicht auf gute Nachrichten hoffen? Natürlich, natürlich werden wir weiterhin fündig. Wer die Vermutung hat, dass etwas nicht stimmt und Zweifel hat, soll uns fragen, und wir werden nachforschen. Niemand will jemand sein, der er in Wirklichkeit nicht ist. Es gibt immer wieder Anzeigen, die nicht stimmen, und man muss vorsichtig sein. Wir gehen nicht einfach so ins Blaue. Wir sind sehr vorsichtig, wenn wir uns daran machen zu überprüfen, ob diese Person tatsächlich einer der gesuchten Enkel sein könnte.

Wenn du die Gelegenheit hättest, deiner Tochter Laura [die von der Diktatur ermordet wurde] nach so vielen Jahren des Kampfes eine Botschaft zu übermitteln, was würdest du ihr heute sagen, wo wir in einem schwierigen und komplizierten Land leben?

Nun, Laura, meine erste Tochter, sie ist in meinem Herzen, sie ist bei mir lebendig und bei ihrer Familie. Aber wo auch immer sie im Himmel ist, ich bin katholisch und glaube, dass sie uns auch von dort aus begleitet, dass sie eine Heldin war und eine Frau, die wusste, was ihr passieren könnte, aber trotzdem das Risiko für ihr Land eingegangen ist. Das heißt, für sie natürlich von der Familie und von mir als Mutter nur das Beste.

Und was können die Großmütter den neuen Generationen sagen, die heute in den Kampf ziehen und weiterkämpfen?

Wir sind nur noch zu dritt. Eine ist krank und wir sind zwei, die Präsidentin und die Vizepräsidentin. Es gibt keine Großmütter mehr. Alle Enkelkinder arbeiten eifrig daran, die zukünftigen Enkelkinder zu finden, von denen niemand weiß, wo sie sind. Und nun geht es uns finanziell sehr schlecht, weil die Regierung uns keinen Cent geben wird. Mehr noch, sie misshandeln uns. Aber auf jeden Fall sind wir in der Welt anerkannt. Wir sind so viel durch die ganze Welt gereist und sie wissen, was wir tun, wie wir es tun und wie wir das Geld verwenden: um die zu finden, die noch fehlen. Also tue ich mit meinem Alter, was ich kann. Der Vorstand der Abuelas besteht bereits aus Enkelkindern und zwei Großmüttern, mit der Vizepräsidentin Buscarita Roa, einer sehr kämpferischen Frau. Es kommen viele junge Leute, die uns helfen, uns verstehen und bei uns sind. Wir wollen, dass sie kämpfen, aber friedlich.

Es gibt eine Aussage von dir, Estela, die mir sehr gefallen hat und die ich gehört habe, als sie die Genesung eines der letzten Enkelkinder verkündet haben. Du hast damals gesagt, dass du stolz darauf bist, im Kampf alt zu werden.

Meine Familie sagt mir immer, hey, du bist schon 94 Jahre alt. Aber: nein, nein und nochmals nein, die 94 Jahre sind nicht wichtig. Ich fühle mich in der Lage, so weiterzureden, wie ich es gerade mit Ihnen tue, denn wenn ich es nicht mehr könnte, wäre es peinlich. Wer weiß, was ich sagen würde. Und ich bin in guter Stimmung, ich hege keinen Hass. Gott sei Dank fühle ich keinen Hass. Ich weiß nicht, was Hass ist. Was ich fühle, sind Ärger, Schmerz und all das, von dem wir nicht sagen können, dass es schon vorbei ist, denn es gibt noch viele Enkelkinder zu finden.

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