Im Schatten der Pinguine. 10 Jahre chilenische Studiproteste

(Santiago de Chile/Berlin, 31. August 2016, npl).- Vor zehn Jahren gingen sie um die Welt, Bilder aufgebrachter chilenischer Jugendlicher. In schwarzen Schuluniformen, mit Zöpfen in den Haaren oder erstem Bartansatz auf den Lippen schrien sie gegen das ungleiche Bildungssystem ihres Landes an. Präsidentin Michelle Bachelet war nicht amüsiert. Die Medien hingegen weltweit begeistert. Und schnell war ein griffiges Label für die Proteste gefunden: Die Pinguinrevolution.

Chile – das Land war lange Zeit kein Hotspot sozialer Bewegungen. Auch nach dem Ende der militärisch-zivilen Diktatur 1989 gelang es nie den neoliberalen Konsens im Land aufzubrechen. Die Schülerproteste kamen wie aus dem Nichts und los ging es ausgerechnet an der öffentlichen Vorzeige-Jungenschule, dem Instituto Nacional. Chorknaben und Mathe-Asse organisierten plötzlich Demos und besetzten später gar die Lehranstalt. „Anfangs ging es uns nur um die Missstände an unserer Schule“, erinnert sich Nicolás Vallejos, damals 16 Jahre alt und als Klassensprecher einer der sichtbarsten Köpfe der Bewegung.

Der Unmut habe sich zuerst an kleinen Dingen entzündet, der unzureichenden Ausstattung der Klassenräume, dem mickrigen Schulessen. Der Schülerrat stellte Untersuchungen an und fand heraus, dass es überall an öffentlichen Schulen ähnlich zuging. Die Zentralregierung kümmerte sich wenig, die Kommunen waren überfordert und die Schüler*innen antworteten mit Demonstrationen. „Und ohne es zu bemerken, sagt Vallejos, „griffen die Proteste auf immer mehr Schulen über.

Schluss mit der Geschäftemacherei

Erst nach Monaten gelang es der Regierung schließlich, die Pinguine mit einigen Zugeständnissen zurück in die Klassenzimmer zu locken. Die Schulspeisungen wurden stärker bezuschusst, Kinder aus sogenannten „sozialen Risikogruppen“ besonders gefördert. Doch das änderte nichts am Grundproblem: Unterfinanzierte öffentliche Schulen auf der einen und profit-orientierte Privatschulen auf der anderen Seite. „Schluss mit der Geschäftemacherei“ lautete dann auch der Slogan mit dem die Pinguin-Generation im Jahr 2011 erneut mobil machte, diesmal an den Universitäten. Niemand hätte gedacht, dass die Rufe nach kostenloser Bildung ein so breites Echo in der Bevölkerung finden würden. Die Pinguine hatten eine nachhaltige Debatte angestoßen und Chile hat heute eine der aktivsten Studierendenbewegungen Lateinamerikas.

„Die Bewegung war so stark, weil sie Profite im Bildungssektor kritisierte, zugleich aber die Idee kostenfreier öffentlicher Dienste als politisches Projekt formulierte“, analysiert der chilenische Soziologe Alberto Mayol, der die Proteste intensive begleitete. Zugleich findet er „dass die Bewegung mit der Zeit an Stärke verloren hat. Die Idee kostenloser Bildung hat sich abgenutzt.“

PR-Trick Bildungsreform

Warum steht die Bevölkerung heute nicht mehr so geschlossen hinter den Studierenden? Das lässt sich an jeder zweiten Bushaltestelle sehen. „Die Bildungsreform kommt“, plakatiert die Regierung und suggeriert: alles unter Kontrolle. Denn Präsidentin Michelle Bachelet versprach im vergangenen Jahr: Bis 2020 gibt es ein kostenloses Studium für alle. Der Soziologe Mayol hält das für einen PR-Trick und rechnet vor, dass offiziell zwar inzwischen 120.000 Studierende kostenlos zur Uni gehen sollen, die meisten von ihnen jedoch schon vorher Stipendien erhielten. „Die Unterstützung von Studierenden aus armen Familien war bereits nach den Protesten 2011 erhöht worden“, erklärt Mayol. „Das heißt, die Zahl derer, denen es wirklich erspart blieb, einen Studienkredit aufzunehmen, war am Ende sehr gering. Es ist also kein wirkliches System kostenloser Bildung. Es wird einfach die Nachfrage subventioniert.“

Und offen ist, wie lange das noch so bleiben wird, Erst kürzlich ätzte der chilenische Wirtschaftsminister Rodrigo Valdés, die Idee kostenloser Bildung sei schlichtweg utopisch. Es sei kein Geld in der Staatskasse, die Forderungen der Studierenden egoistisch. Man müsse einfach einsehen, dass die niedrigen Weltmarktpreise für Kupfer ein Loch in den Haushalt gerissen hätten.

Dass Chile von der Kupferrente abhängig ist, keine Frage. Doch eines erwähnt Valdés nicht: Bis heute gibt der Staat zehn Prozent der Kupfereinnahmen wie selbstverständlich ans Militär weiter, für Waffenkäufe. Milliarden, mit denen eine umfassende Bildungsreform problemlos zu stemmen wäre.

Das Erbe der Diktatur abschütteln

Das wissen auch die hunderttausenden Demonstrierenden, die im Juli erneut auf die Straße gingen. In Santiago ist die die Lehramtsstudentin Daniela Pino mit dabei. Sie findet, trotz aller Kritik an der Bewegung, dass die Proteste bunter geworden sind, denn „es nehmen mehr Uniangestellte und Profs an den Demos teil, weil es sich eben doch um ein soziales Problem handelt.“ Die Unzufriedenheit mit dem neoliberalen System Chiles sei groß und Pino ist sich sicher: „Fast alle sind für eine neue Verfassung, um endlich das Erbe der Diktatur abzuschütteln. Das heutige chilenische System wurde während der Diktatur entwickelt und es gefällt uns nicht.“

Eine neue Verfassung, die will auch Nicolas Vallejos, Pinguin der ersten Stunde. Heute arbeitet der frisch gebackene Agraringenieur bei einem Verpackungsunternehmen, um seinen Studienkredit zurückzahlen. Es sei ihm nicht schwer gefallen, einen Job zu finden, denn „die Fähigkeiten die man als Führungsfigur eines Massenprotests entwickelt, werden vom Privatsektor sehr geschätzt. Man lernt zu verhandeln, zu reden. Das ist einem später sehr von Vorteil.“ Zu Demos gehe Nicolás nicht mehr. Resignation? Nein, vielmehr hat der junge Mann die Ambition, noch vor seinem 30. Geburtstag Stadtteilbürgermeister in Maipu zu werden. Denn seine Generation habe heute die Aufgabe, neue politische Räume zu erobern.

Ein besseres Chile, das müsse auch in den Institutionen erkämpft werden, nicht nur auf der Straße. „Wir müssen daran arbeiten, die politische Repräsentation zu verbessern“, sagt er bestimmt und weist darauf hin, dass zwar einige versuchen, eine neue Verfassung zu schaffen, sich die Mehrheit der Wahlberechtigten aber politisch nicht beteiligt, seit keine Wahlpflicht mehr besteht. „Auch da müssen wir weiterkommen in Chile. Die Menschen müssen ihre Entscheidungsfreiheit nutzen“, fordert Vallejos und hat gleich noch ein naheliegendes Beispiel parat. „Freiheit, das heißt unter anderem selber entscheiden zu können, wo man studieren will. Wir müssen den Menschen die Möglichkeiten verschaffen, selbst über ihr Leben zu entscheiden.“

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