(Pamplona, 4. März 2022, ANRed).- Die Europäische Union hat ihre Grenzen zur Ukraine weit geöffnet, um die Menschen aufzunehmen, die vor dem Krieg fliehen. Zeitgleich bezahlt sie weiterhin die Türkei dafür, dass sie syrische Menschen auf der Flucht an der Einreise nach Europa hindert, und ignoriert das Schicksal unzähliger Geflüchteter, die auf dem Weg von Afrika nach Europa sterben. Seitens der Afrikanischen Union kam bereits heftige Kritik, weil die in der Ukraine lebenden Afrikaner*innen an den Grenzübergängen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union aufgehalten werden. Als ob die Bomben und die Schrecken des Krieges für sie nicht dasselbe wären. Jetzt, wo Bomben endlich Mitgefühl erzeugen, ist vielleicht ein günstiger Moment, um daran zu erinnern, dass die russischen Bomben über Charkiw dieselben sind, die auch auf Syrien fielen. Und jetzt, wo der Teufel die Kluft der Kosaken trägt, sollte man daran erinnern, dass nicht nur Moskau Bomben auf Syrien wirft.
Was wurde aus den Hunderttausenden geflüchteten Syrer*innen?
„Praktisch überall auf den Straßen sah man die Zerstörung. Überall Berge von Schutt, zerbombte Gebäude, ausgebrannte Fahrzeuge. Dazwischen verstreute Habseligkeiten, Kleidung, Kinderspielzeug – Zeugnisse einer Zivilbevölkerung, deren Leben dem Bombenhagel zum Opfer fiel“, schrieben Donatella Rovera und Ben Walsby über den Bombenangriff auf die syrische Stadt Raqqa durch die US-geführte internationale Koalition. Für ihren Bericht „Vernichtungskrieg. Verwüstungen in Raqqa, Syrien und ihre verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung“ recherchierte das Autorenteam im Auftrag von Amnesty International. „Im Rahmen einer Militäroperation sollte die bewaffnete Gruppe, die sich selbst Islamischer Staat nennt, aus Raqqa vertrieben werden. Die Gruppe hatte die syrische Stadt zu ihrer Hauptstadt erklärt. Bei der Operation, die sich insgesamt über vier Monate hinzog, wurden Hunderte Zivilist*innen getötet, etliche weitere verwundet und große Teile der Stadt zerstört. Zwischen Juni und Oktober 2017 wurden öffentliche und private Gebäude sowie die Infrastruktur der Stadt in Schutt und Asche gelegt oder nachhaltig beschädigt.“ Jetzt, wo die Bomben endlich Mitgefühl erzeugen und Europa seine Grenzen zur Ukraine weit (na ja, relativ weit) geöffnet hat, ist vielleicht ein guter Moment, um zu fragen, was wohl aus den Syrer*innen geworden ist, die 2015 versuchten, in die EU zu gelangen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren das allein 2015 über 500.000. Sie flohen vor den Bomben, genau wie jetzt die Menschen aus der Ukraine.
Alle Bomben treffen die Zivilbevölkerung
In Syrien lassen sich Himmel und Hölle nicht mehr voneinander unterscheiden, denn sämtliche Kriegsparteien werfen Bomben, und alle treffen die Zivilbevölkerung: die Bomben des Islamischen Staats genau wie die der US-geführten Koalition zur Bekämpfung des IS, die Bomben Russlands, das Präsident Bashar al-Assad unterstützt, und natürlich die von al-Assad selbst. Letzterer gilt bei Menschenrechtsorganisationen als Haupt-, wenn auch offensichtlich nicht als Alleinverantwortlicher für die mehr als 500.000 Toten in diesem Krieg, den er gegen alle führt, die sich ihm widersetzen. Die Tatsache, dass auch der IS zu den Feinden Al-Assads gehört, hat dazu geführt, dass die internationale Koalition, an der neben den USA unter anderem Großbritannien und Frankreich aktiv beteiligt sind, davon abgesehen hat, ihn zu stürzen wie Saddam Hussein im Irak oder Muammar Gaddafi in Libyen.
Die EU verstößt gegen internationales Recht
Aber jetzt, wo uns Bomben nun offensichtlich doch erschüttern können, ist vielleicht der Moment gekommen, uns daran zu erinnern, dass laut UN-Flüchtlingshilfswerk rund ein Drittel der nach UN-Kriterien als Geflüchtete zählenden 12 Millionen Menschen in der Türkei lebt und nicht in der reichen und solidarischen EU, die die Gruppe geflüchteter Menschen in der Türkei mit 3,7 Millionen beziffert. Die Türkei ist somit das Land mit den meisten Geflüchteten. Seit 2016 hat sie von der EU sechs Milliarden Euro erhalten, damit sie die an der Weiterreise nach Europa hindert. Vielleicht auch ein guter Moment, um daran zu erinnern, dass das scheinsolidarische Europa damit gegen internationales Recht verstößt: Gemäß dem Abkommen von 1951 über die Rechtsstellung von Geflüchteten und dem dazugehörigen Protokoll von 1967 gelten diejenigen Menschen als geflüchtet, die aus „Furcht vor Verfolgung“ aus ihrem Land fliehen, so die Auslegung des UN-Flüchtlingshilfswerks.
Jeder Mensch, auf den diese Kriterien zutreffen, hat in dem Land, in dem er den entsprechenden Antrag stellt, ein Anrecht auf Asyl.
Aber da Mitgefühl gerade zu den Volkstugenden zählt, scheint jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt, um daran zu erinnern, dass das internationale Recht einen Unterscheid macht zwischen Menschen, die sich vor Bomben in Sicherheit bringen wollen, und denen, die vor Hungersnöten fliehen, als ob Tod durch Hunger weniger schlimm wäre als Tod durch Bombardierung. Allein im Jahr 2021 starben 4.401 Menschen, Erwachsene und Kinder, auf ihrer beschwerlichen Reise von ihren Heimatländern in Afrika nach Europa, so die NGO Caminando sin Fronteras. Mir hat es noch nie eingeleuchtet, wieso es normal sein soll, dass Menschen verhungern. Bis heute kann ich mir das nicht erklären. Erst recht nicht jetzt, wo es so aussieht, als hätten die Bomben in der Ukraine unser Mitleid geweckt. Oder verstehe ich hier auch wieder was falsch?
Krieg in der Ukraine: Endlich Bomben, die Mitgefühl erzeugen von Nachrichtenpool Lateinamerika ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
Schreibe einen Kommentar